Liebevoll vernachlässigt – Erinnerungen an meine Kinderzeit “Off da Hohl”

„Ich hätte nie gedacht, daß ich die alten Strassen, meiner Kinderfilme nochmal wiederseh, wo wir schon morgens auf den Treppenstiegen saßen, und wo noch heute Schüler in die Schule gehen“

Songtext: Klaus Hoffmann

Wenn man sich einmal im Internet umblickt, findet man zahlreiche Straßen die den Namen „Hohlstrasse“, „Hohlweg“ oder „In der Hohl“ tragen. Ein solcher Straßenname ist in unserem Bundesland keineswegs selten und hat längst kein Alleinstellungsmerkmal. Mein Elternhaus steht „Auf der Hohl“ wobei diese Straße im eigentlichen Sinne den Namen „Herrengärten“ trägt.  Die links neben dem ehemaligen evangelischen Pfarrhaus laufende Straße hat ihren Namen wohl in Anlegung an die Herrschaft derer von Nassau-Saarbrücken, die das Pfarrhaus im Jahre 1736 erbauten. Heute beginnt und endet die U-förmige Straße im Grunde auf der B10, die durch unseren Heimatort führt.

Bereits im Jahre 1767 war die Straße unter dem Namen „Hohlgasse“ in unserem Dorf bekannt. Ihren heutigen Namen „Herrengärten“ bekam die Straße wie bereits erwähnt erst viel später. Die ursprüngliche “Hohlgasse” verlief noch nicht U-förmig, sondern endete oberhalb des Gartens des Pfarrhauses. Zunächst dürfte der Name „Hohlstrasse“, wie in vielen anderen Ortschaften, auf eine röhrenförmige und schmale Gasse hingedeutet haben. Ganz früher wurde im sogenannten Unterdorf der heutige Verbindungsweg auch „Hohlweg“ genannt. Irgendwann entschied sich die ehemalige Gemeinde Dirmingen dazu der Straße den Namen „Herrengärten“ zu geben. Dabei hat man sich vor der Namensgebung bestens informiert. In den Chroniken heißt es: „Im Besitz der Herren des Ortes, die in einem Ortsteil zusammenwohnen und als die reichsten Bauern des Ortes gelten. Wahrscheinlich sind dies die ältesten Siedler (Freisassen). Nicht ausgeschlossen ist auch, dass es sich um die Gärten der „Häre“ d.i der Geistlichen handelte“.

Wenn man mich als Kind fragte, wo ich den wohnen würde, antwortete ich:“ Off da Hohl“. Meistens lautete die nächste Frage: „Wo geherschde dann hin?“ In der Regel antwortete ich: „Mei Vadda is de Zimmermichels Horst“. Meistens war dann alles klar. Der kleine etwas dickliche Junge war also der Enkelsohn von “Zimmermichels Erna”. So war das im Dorf, jede Familie hatte einen gesonderten Häusernamen. Meistens bekam ich noch einen Gruß mit auf den Weg und wurde wohlwollend entlassen. Mein Elternhaus stand also, laut Volksmund “Off da Hohl“. Genauso wurde die Straße damals genannt, nicht „Hohlgasse“ oder „Hohlweg“ sondern „Auf der Hohl“. Das hat seinen guten Grund. Obwohl die heutige “Herrengärten” oder “Lachwies” zunächst schon recht schmale Gassen waren, weißt der Name „Hohl“ auf eine ganz andere Bedeutung hin. Einheimische wissen, dass sich früher genau dort ein Kalksteinbruch befand. Bis heute ist der Abbruchbereich noch gut und deutlich zu erkennen, wobei auch die alten noch vorhandenen Stollen gut erhalten sind. Der Berg mit dem Flurnamen „Auf der Lehbühl“ wurde an dieser Stelle praktisch ausgeholt. Daraus entstand wohl im Volksmund der Name „Hohl“. Interessant ist auch, dass früher einmal die heutige “Lachwies” auch „Hohlweg“ hieß und später auch die heutige „Herrengärten“ den Namen „Hochstraße” trug.

Bereits im Jahre 1764 wurde nachweislich in Dirmingen Kalk abgebaut und auch verkauft. Im Jahre 1773 wurde durch die fürstliche Regierung eine Verordnung des bergmännischen Betriebes der Kalkgruben angeordnet. Im Illtal gab es damals kaum Kalkvorkommen. Dadurch gewann die Kalkgewinnung in Dirmingen deutlich an Bedeutung. Der Kalk eignete sich, nach seiner Brennung, zum Hausbau und zum Düngen von Feldern und zur Bekämpfung von Schädlingen an Obstbäumen. In Dirmingen verlief die Kalkader im Bereich des Belkers, unweit meines Elternhauses. Im Bereich der „Leh“, des „Belkers“ und der heutigen “Ziegelhütte” wurden nachweislich Stollen in den Hang getrieben und mit Holzstützen abgesichert. Durch die Erfindung des Zements und die modernen Düngemittel wurde die Kalkgewinnung unrentabel. In Dirmingen wurden viele der älteren Bauern- und Wohnhäuser mit Dirminger Kalkmörtel gemauert und verputzt. Der Kalkabbau war nicht ungefährlich und nachweislich haben einige Männer dabei ihr Leben gelassen. Um die eigene Familie zu ernähren, ging man jedoch dieses Risiko bewusst ein. So gesehen lag die Straße meiner Kindheit in einer interessanten Gegend.

Der Kalkabbau auf Dirminger Bann war jedoch nur von kurzer Dauer. Leider gibt es heute nur wenige Hinweise darauf, ob die Förderung von Kalk tatsächlich lukrativ war. Die Aktivitäten endete schließlich mit der Versteigerung vorhandener Kalksteine. Zu gleicher Zeit wurde von einem Urexweiler Unternehmer versucht, sein Kohlenbergwerk bis ins Dirminger Tal auszudehnen. Für dieses Vorhaben wurde das gemeindeeigene Land am „Dörrwald“ und „Hintere Losswiesen“ verpachtet. Bis auf den gut erkennbaren Steinbruch erinnert heute kaum noch etwas an diese Zeit. Der Bergbau spielte also auch in Dirmingen eine gewichtige Rolle. Im zweiten Weltkrieg wurde viele dieser Stollen als Schutzstelle oder Luftschutzbunker genutzt. Die Familie meiner Großmutter nutzte bei Bombenangriffen entweder einen Luftschutzbunker in der heutigen „Illingerstrasse“ oder eben im alten Steinbruch. In diesen Zeiten saßen in unzähligen Bunkern die Menschen eng zusammen und haarten aus, bis die letzten Bomben gefallen waren. Das müssen jedes Mal schreckliche Minuten und manchmal sogar Stunden gewesen sein.

Vor einigen Jahren wollte die heutige Gemeinde Eppelborn, im Bereich östlich des Sportplatzes, ein neues Siedlungsgebiet errichten. Bis auf einige Baustellen musste das Vorhaben jedoch aufgegeben werden. Besonders im oberen Teil des Gebietes bestand erhebliche Gefahr durch Senkungen und Einbrüche durch den früheren Stollenbau. Auch in der Nähe meines heutigen Hauses übten einige Männer nachweislich den Beruf des Kalkgräbers aus. Daraus entstand später der Häusername „Kalkstollersch“ und auch der Straßenname “Am Kalkstollen”.

Als mein Großvater nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrte war meine Oma auf sich alleingestellt und erwarb mein Elternhaus „Auf der Hohl“. Dort musste Sie allein meinen Vater erziehen und für den Unterhalt sorgen. Meine Großmutter war eine bodenständige, bescheidene, aber auch mürrische und herzliche Frau. Sie war immer da! Es gab Zeiten da reichte unsere Welt von der “Hohl” bis auf die “Leh” wobei lediglich der Geruch von Biermaische, der über unser Dorf wehte, an die “große weite Welt” erinnerte.

Bis heute begleiten mich beim Durchschreiten „Meiner Straße“ nur gute und schöne Kindheitserinnerungen. Auf dieser Straße durften wir einfach Kind sein. Den ganzen Tag wurde Fußball oder auch Cowboy und Indianer gespeilt. Dabei nahmen wir uns die TV-Helden der damaligen Zeit als Vorbild. Wir freuten uns über die Augsburger Puppenkiste, Lassie, Flipper, Sindbad oder Kimba, den weißen Löwen. Wir träumten mit Peterschens Mondfahrt und ritten bei Bonanza mit Hoss und Little Joe den Verbrechern nach. Peter Lustig erklärte uns in seiner Sendung “Pusteblume” die Welt. Selbst die Werbung war sensationell und bis heute unerreicht. Samstags war Vater damit beschäftigt das Auto zu waschen. Das Familienauto war sein ganzer Stolz. Danach wurde gebadet, samstags wurde immer gebadet. Anschließend ging es ab vor dem Klotze. Sportschau, DISCO mit Ilja Richter, ZDF-Hitparade und dann irgendwelche Familienshows mit Kulenkampff oder Peter Alexander. Sonntags hörten wir nach dem Kirchgang immer Radio. Wisst ihr noch? „Papa Charly hat gesagt…!??

Wir freuten uns montags schon auf die ZDF-Hitparade und samstags auf die „Rappelkiste“ oder „Neues aus Uhlenbusch“. Wir Jungs liebten die Filme von Karl May mit Winnetou und Old Shatterhand. Nach jedem Film verabredeten wir uns, um in Rollenspielen das gesehene nachzueifern. Bei den Mädchen waren die Barbie-Puppen angesagt. Genau diese Puppe musste es sein. Vater war Bergmann und Mutter war Hausfrau. Den Weg zum Kindergarten auf dem „Render“ und später zur „Alt Schuul“ musste ich selbst finden. Mal zu fuß, mal mit dem Rad. Immer ohne Helm aber dafür immer in Eile. Meine Eltern waren keine reichen Leute, dafür war es bei uns aber immer gemütlich und wir fühlten uns geborgen.

Unsere Eltern konnten uns noch ohne große Sorge draußen spielen lassen. Eine gute Freundin sagte mal:”…wir wurden liebevoll vernachlässigt”. Spätestens wenn wir Hunger hatten, kamen wir Nachhause. Wir wollten immer nur nach draußen – raus auf die Straße. Die ganze „Hohl“ war unser Spielplatz. Von der „Herrengärten“ über den „Steinbruch“ bis hoch zur „Leh“ und dem angrenzenden „Belker“. Morgens ging es beizeiten raus und spät Abend musste uns Mutter zur Heimkehr rufen. Es war eine leichte und unbeschwerte Kinderzeit und wenn wir einkaufen gehen mussten, wurde dass in der eigenen Straße bei “Herregärder Ida” erledigt. Damals durfte man noch ohne Helm Fahrrad fahren oder auch ohne Absicherung auf den Steinbruch klettern, um die Aussicht zu genießen. Heute würde ich das zugegebenermaßen meinem Sohn niemals erlauben. Wir kannten jeden Baum und jedes Versteck. Wenn wir durstig waren, gingen wir zur Quelle unterhalb der „Leh“ um das kühle Wasser zu trinken. Dort in der Nähe befanden sich auch die besagten alten Stollen, die vom Kalkabbau zeugten. Als Kind haben wir vor den großen Holztoren mit Gittern gehockt und versuchten uns vorzustellen, wie es darin wohl aussehen mag. Heute ist von den Stollen kaum noch was zu sehen.

Langeweile kannten wir nicht, wir waren Schlüsselkinder und wenn die Eltern mal nicht da waren, gab es immer noch die Oma. Ich liebte es ihr bei der Haus – oder Gartenarbeit zuzusehen. Wie Sie Marmelade kochte, Bohnen erntete, Erdbeeren pflückte oder einfach nur „Gefilde“ machte. Zu meinem Elternhaus gehörte ein Gemüsegarten. Omas Hände war gezeichnet von harter Arbeit. “Dehemm es Dehemm”, dass gilt heute noch genauso wie früher. Schön, dass meine Kinder heute gerne ihre Großeltern, in meinem Elternhaus, besuchen. So schließt sich der Kreis.

War früher also alles besser? Nein, ich würde sagen, es war anders! Am Ende ist es immer das, was man daraus macht. Heute gibt es bessere Möglichkeiten und auch größere Angebote. Die Kunst liegt darin diese sinnvoll zu nutzen. Nicht alles, war früher besser, vielleicht aber einfacher! Wir hatten früher immer irgendeiner Art Sehnsucht. Dabei standen wir aber auch immer unter der Aufsicht der Fenster. Dort hinter den Fenstern spielte sich das Leben ab. Dort hinter den Fenstern fand man Neid, Hass, Liebe und auch Zuversicht. Das war früher schon so und hat sich bis heute nicht geändert.

„Komm, blauer Mond, Zeig mir noch mal meine alten Gassen – Ich hab’ heut’ Nacht geträumt, Von einem Kind, das sucht und streunt“

Liedtext: Klaus Hoffmann

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