80 Jahre nach Kriegsende – Unsere Geschichte dient als Mahnung

Als der Zweite Weltkrieg am 18. März 1945 gegen 17:00 Uhr, mit dem Einrücken amerikanischer Truppen für die Einwohner unseres Dorfes zu Ende ging, war Dirmingen eine der meist beschädigtsten Landgemeinden des damaligen Landkreises Ottweiler. Am Ende erlebten die Menschen in unserem Dorf 23 Bombenangriffe mit meist fatalen Folgen. Lange Zeit beschäftigte man sich in Dirmingen mit der Frage: Warum wir? War Dirmingen etwas besonders oder gab es in unserem Heimatort besonders viele Nazis oder kampfbereite Soldaten? Am Ende hatte vieles damit zu tun, dass Dirmingen aufgrund seiner geologischen Lage als ein strategischer Knotenpunkt diente. Zudem verfügte Dirmingen über einen großen Bahnhof mit mehreren Gleisen. Die Wehrmacht nutzte dieses Bahngelände, um eine große Flak zu positionieren. Ob es sich bei dieser Kanone tatsächlich um den sogenannten „schweren Gustav“ handelte, der auf den Gleisen zwischen Dirmingen und Wemmetsweiler bewegt wurde, wage ich zu bezweifeln. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine weitaus kleinere Flak handelte. Zeitzeugen berichten jedoch davon, dass dieses Geschütz nur selten zum Einsatz kam und die Wirkung verheerend gewesen sein muss. Durch die enorme Druckwelle der Kanone wurden einige Häuser in unmittelbarer Nähe beschädigt.

Unsere Dorfchronik berichtet vom 18. März 1945:

„Die Nacht vom 17.zum 18.03. schlief niemand, Dauerschießen von Artillerie. Den ganzen Tag im Stollen. Um 14:00 Uhr wird der Volkssturm alarmiert. Panzersperre schließen. Volkssturm kommt nicht dazu. 15:00 Uhr: Die Hölle ist los. Dirmingen bekommt die nächsten Treffer. Um halb 16:00 Uhr wurde das Gemeindehaus (Feuerwehrgerätehaus brennt) lichterloh getroffen, ebenfalls das Anwesen von Heinrich Heintz (Landwirt) brennt. Um 16:30 Uhr einzelne deutsche Truppen auf Autos kommen vom Westen und ziehen nach Osten ab. 17:00 Uhr: amerikanische Truppen ziehen in Dirmingen ein. Auf die zurückziehenden deutschen Truppen wird geschossen, einige werden tödlich getroffen. Ein Dirminger Bürger wird ebenfalls erschossen“.

Die amerikanischen Truppen versammelten die Dirminger Bevölkerung vor dem zerstörten Gemeindehaus und erklären den Krieg für beendet. Die Befehlshaber quartierten sich kurzzeitig im Gebäude der „alten Apotheke“ ein. Der damalige Pastor Didas wurde befragt und half schließlich einen geeigneten Ortsvorsteher zu benennen. Berichte nach denen zufolge Menschen in Dirmingen gefoltert, vergewaltigt oder diskriminiert wurden liegen nicht vor. Wenn man sich vor Augen führt, dass am gleichen Tag auch Eppelborn und Lebach besetzt wurde und am 21. März Neunkirchen und Saarbrücken fielen, wird deutlich mit welchem Tempo die Alliierten vorgingen. Zeitzeugen berichten, dass die Menschen in Neunkirchen, Elversberg, Spiesen und Saarbrücken nicht so glimpflich davonkamen. Mit dem Einzug der Alliierten in unsere Region wurden immer wieder über Diskriminierungen, Hinrichtungen und Vergewaltigungen berichtet.  Dirmingen wurde zur Anlaufstelle von Flüchtlingen, Strafarbeitern, Verletzten oder traumatisierten Soldaten. Der Flüchtlingsstrom nach Kriegsende schien kein Ende zu nehmen. Die Menschen ließen sich überall nieder und suchten Hilfe und Obdach. Berichten zufolge schliefen die Flüchtlinge in der Kirche, dem Pfarrhaus und auch in Stallungen und Ruinen.

Als der Krieg zu Ende war, musste sich jeder selbst hinterfragen: War ich auf der richtigen Seite? War ich vielleicht zu gutgläubig? Waren die Nazis Verbrecher und was war überhaupt mit den Juden? Nachweislich lebten in Zeiten des 2. Weltkrieges keine Juden in Dirmingen. Viele Juden waren jedoch Mitglied in der jüdischen Gemeinde Illingen und nahmen des Öfteren den Weg durch unseren Heimatort. Haben wir tatsächlich nichts gesehen, oder haben wir bewusst weggeschaut? Warum ist uns nichts aufgefallen?

Der März 1945 brachte viel Unheil über unser Dorf. Bis zum tatsächlichen Kriegsende herrschten in Dirmingen katastrophale Umstände. Am 13.März 1945 berichtet der Kriegsberichter, dass es nach einem erneuten schweren Luftangriff kaum noch ein unbeschädigtes Haus in Dirmingen gab. Am 16.März 1945 wurden starke Luftangriffe mit verheerenden Folgen gemeldet. Über 95% der Häuser und Gebäuden waren durch Luftangriffe zerstört. Die Opfer in der Zivilbevölkerung waren enorm hoch. Insgesamt verloren über 200 Menschen kämpfend an der Front oder als Zivilist in unserem Heimatort ihr Leben.

Der schlimmste Angriff auf unseren Heimatort ereignete im Mai 1944. Der 11.Mai.1944 war ein Donnerstag. An diesem Tag brachte die “Operation No. 351″ unserer Dorfgemeinschaft großes Leid. Ziel der „Operation No. 351“ war die Bombardierung der Verschiebebahnhöfe in Brüssel, Lüttich, Konz-Karthaus, Luxemburg, Völklingen – und Saarbrücken. Insgesamt 608 viermotorige Bomber vom Typ B-17 »Flying Fortress« starten zwischen 15.00 Uhr und 15.45 Uhr von ihren Flugplätzen in Ost- und Südostengland. Die damaligen Kriegsberichterstatter berichtet: „… zunehmend schlechter werdende Sichtverhältnisse über der Stadt, stellenweiser Bodendunst und die Saarbrücker Flak erschweren den einfliegenden B-17 jedoch die genaue Zielerfassung.“ Die Alliierten hatten es schwer und am Ende waren nur noch mit 21 Maschinen über Saarbrücken präsent. Nach Abbruch der“ Operation No. 351“ werfen 16 ihre Bombenlast über Völklingen ab, die übrigen B-17 lassen ihre Bomben später irgendwo auf dem Rückflug fallen.

Später irgendwo auf dem Rückflug fallen! Irgendwo war an diesem Tag auch in Dirmingen. An diesem Schicksalstag mussten 11 Bewohner ihr Leben lassen. Unter den Opfern befand sich damals auch ein 2-jähriges Kleinkind. Am Ende des zweiten Weltkrieges verloren über 20 Zivilisten in unserem Dorf durch feindliche Luftangriffe ihr Leben. Zudem starben über 160 Dirminger Soldaten auf den Schlachtfeldern dieses unnützen Weltkrieges. Am 18. März 1945 endete für die Bevölkerung unseres Heimatortes der zweite Weltkrieg. Mit dem Einrücken der Amerikaner in unseren Heimatort verloren drei weitere Menschen in letzten Gefechten ihr Leben. Unter den Opfern war der Dirminger Johann Nagel, der sich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Zu den Opfern dieses Krieges gehörte auch mein Großvater Artur Klein, der als Soldat im Kampf in Tschechien fiel. Ebenso die Schwester meiner Großmutter, also meine Großtante Karoline Wohlfart, die den Bombenangriffen vom 11. Mai zum Opfer fiel. Irgendwie und irgendwo hat wohl jeder ein persönliches Opfer zu beklagen.

In der Zeit zwischen Weihnachten 1944 und März 1945 erfuhren die Menschen in Dirmingen viel Unheil. Täglicher Überlebenskampf in den vielen selbstangelegten Bunkern unseres Dorfes. Es herrschte Hunger und Durst. Der 21.Februar 1945 wurde zum traurigen Schicksalstag für die Dirminger Katholiken. An diesem schönen Vorfrühlingstag wurde die im Jahre 1911 erbaute Kirche auf dem Rothenberg bei einem Luftangriff völlig zerstört. Wäre die Bombe nur 15 Minuten früher an Ort und Stelle eingeschlagen, hätte es vermutlich zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. Die Bombe fiel nur Minuten vor einer angesetzten Abendmesse. 

Die Bevölkerung war nach Kriegsende traumatisiert. Eine Zeitzeugin sagte mir mal in einem persönlichen Gespräch: „…immer wenn die Jabos kamen zogen wir meinem Bruder einen Kartoffelsack oder eine Mütze über den Kopf, er hatte hellblondes Haar und war eine perfekte Zielscheibe für die Piloten.“ Die Jahre nach der Machtergreifung des Nazi- Regimes bis hin zum Kriegsende haben bei unserer Bevölkerung tiefe Wunden hinterlassen. Ich habe es nie verstanden, dass bei der Volksabstimmung vom 13.Januar 1935 der damalige Deutsche Front in der Bürgermeisterei Eppelborn-Dirmingen mit 97 % der Abstimmungsberechtigten das höchste Ergebnis im ehemals preußischen Teil des Saargebietes gelang. Die landesweite Zustimmung für die Heimkehr ins Deutsche Reich lag lediglich knapp 91 % der abgegebenen Stimmen. Das Ergebnis der Reichstagswahlen von 29. März 1936 demonstriert, wie radikal sich die politische Stimmung in der Bürgermeisterei Eppelborn Dirmingen verändert hat. In Eppelborn und Wiesbach wagte damals jeweils nur ein Wähler gegen Hitlers Liste zu stimmen. In allen anderen Dörfern der Bürgermeisterei Eppelborn- Dirmingen wurde keine einzige Gegenstimme abgegeben. Auch meine Familie hat also damals für das Hitler-Regime gestimmt. Natürlich lag ein Grund darin, dass bei den Wahlvorgängen die Anonymität nicht vorhanden war und die Menschen erstmals Angst vor einer gefährlichen Entwicklung verspürten.

Das Nazi-Regime stürzte unseren Heimatort ins Verderben. Einer Umfrage zufolge nimmt heute ein Großteil der deutschen Bevölkerung den Begriff „Befreiung“ als wörtlich. Ich frage mich, wie die Menschen in unserem Dorf es damals empfunden haben. Unmittelbar nach Kriegsende wuschen viele ihre Hände in Unschuld. Keiner will etwas gehört oder gesehen haben. Natürlich gab es unter der Bevölkerung auch sehr viel Angst. Die über Jahre angestaute Angst vor den Nazis wisch nach der Befreiung in eine neuerliche Sorge vor der Macht der Besetzer. Dabei gab es in unserem Dorf auch Zwangsarbeit und auch Menschen, die deportiert wurden. Nachweislich wurde mit Rudolf Wohlfart ein Bürger im KZ Hadamar getötet. Zwei weitere Bürger, deren Namen hier unerwähnt bleiben, waren zeitweise im KZ Hinzert inhaftiert.

80. Jahre danach! Was bleibt? Nur die Erinnerung an ein schlimmes Regime und einen schrecklichen Krieg? Am Ende sollte uns die Erinnerung lehren, dass es niemals wieder so weit kommen darf. Dabei ist es wichtig die Erinnerung zu bewahren. Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Kinder und Jugendliche kaum mit den Geschehnissen um den 2. Weltkrieg beschäftigen. Die meisten Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben oder können sich aufgrund ihres damals jungen Alters kaum erinnern.

80. Jahre nach Kriegsende hat sich in unserem Land vieles verändert. Wir leben in Freiheit, auf einem scheinbar sicheren Kontinent. Tatsächlich? Ist das so? Seit über 3 Jahren tobt mitten in Europa ein Krieg. Die oft zitierte hat uns fest in ihrem Bann. Der Wind hat sich tatsächlich gedreht und vieles erinnert an die Weimarer Republik kurz vor der Machtergreifung der Nazis. Sollte sich die Geschichte tatsächlich wiederholen? Dabei ist der Konflikt in der Ukraine längst nicht der einzige Krieg, der auf dieser Welt geführt wird. Wir leben in Zeiten der menschlichen Verrohung und des „Wir gegen Die“. Die Angst vor einer nuklearen Katastrophe ist allgegenwärtig. In Europa herrschte fast 80 Jahre lang Frieden. Das ist nun vorbei! Was macht das mit uns und wie gehen wir mit dieser Angst um? Wir alle verfallen in einen gewissen Pessimismus und eine gewisse Depression. Wir sehen nur noch schwarz oder weiß. Die gesunde Mitte haben wir längst aus den Augen verloren. Die extremen politischen Ränder werden gerade in diesen Zeiten gestärkt. Schlimmer noch: Viele glauben tatsächlich, dass es früher doch überhaupt nicht so schlimm gewesen sein kann.

Die Welt bewegt sich am Abgrund und wir ringen nach den richtigen Antworte. In den sozialen Medien herrscht Krieg. Unterstellungen, Halbwahrheiten, Hasskommentare, Lügen und Hetze sind an der Tagesordnung. Inwieweit bringt uns das alles in Gefahr?  Das neue Zauberwort heißt: Aufrüstung! Koste es, was es wolle! Wir kämpfen vor unserer Haustür für besseres Klima, um dann mit teurem Geld in der Ukraine Bomben und Raketen zu verfeuern. Ist das tatsächlich der Weisheit letzter Schluss? Ich persönlich kann der Aufrüstung und dem Krieg nichts abgewinnen. Krieg ist etwas Furchtbares. Krieg ist immer anders und wird auf viele Arten geführt. Die Menschen in unserem Heimatort Dirmingen haben in den beiden Weltkriegen schreckliches erlebt. Die Ereignisse in Dirmingen vor über 80 Jahren sollten uns eine Lehre sein. Ein Blick in die eigene Vergangenheit kann nicht schaden und ist in vielen Fällen hilfreich.

Die Welt bewegt sich am Abgrund. Meine Familie hat in den beiden Weltkriegen viele Opfer gebracht. Ich möchte nicht, dass meine Kinder, Enkel und Schwiegersöhne das gleiche Leid erfahren. Europa wird Aufrüsten. Mit einer militärischen Abschreckung soll ein weiterer Weltkrieg verhindert werden. Meiner Meinung nach beginnt der wahre Frieden in den Köpfen der Menschen. Brauchen wir tatsächlich Waffen um Abzuschrecken? Im Grunde würde ein vernünftiger Menschenverstand ausreichen, um das schlimmste zu verhindern. Genau von dieser Vernunft sind wir jedoch meilenweit entfernt. Die Geschichte unseres Dorfes sollte uns als Mahnung dienen.

2 Kommentare

  • kleinfrank

    Hallo,

    vielen Dank für die ausführliche Erklärung.

    Danke fürs Lesen und Kommentieren.

    Gruß
    Frank

  • Hans Schmauch

    Der Einsatz der 80cm Kanone (E) alias Dora oder Gustav ist nur in der Schlacht um Sevastopol belegt.
    Alleine die Dimension dieser Kriegswaffe hätte die bestehende Bahnstrecke an ihre Grenzen gebracht.
    Wahrscheinlicher ist ein „kleineres“ Eisenbahngeschütz ggf mit einem Flakzug als Sicherung. Die länge dürfte um 500 Meter betragen haben um das Geschütz im Merchweiler Tunnel zu verstecken.

    Aber sei es drum, schön geschriebener Bericht – hoffen wir alle auf ein NIE WIEDER!
    Geschichte muss für die jüngeren Generationen erhalten und erzählt werden-danke hierfür!

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