Dirmingen – Ein Tag im Jahr 1914
Dirmingen im Jahre 1914. Am späten Abend des 28. Juni 1914 brachte der Telegraph die erschütternde Nachricht, dass der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien bei einem Attentat erschossen wurden. In Folge dieses Ereignisses brach schließlich der 1. Weltkrieg aus. Die militärische Auseinandersetzung begann nur einen Monat später am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Bei Kriegsausbruch gab es im ganzen Land großen Jubel und Siegeszuversicht. Der deutsche Kaiser befahl am 31. Juli die Mobilmachung der gesamten deutschen Armee. Es folgte die Kriegserklärung an Russland und Frankreich. Der 1. Weltkrieg wurde mit Hilfe der aufglimmenden Industrie zum ersten Massenkrieg. Am Ende befanden sich drei Viertel der Weltbevölkerung im Krieg. Mehr als 17 Millionen Menschen mussten ihr Leben lassen. Die Schlacht um Verdun wurde zum Inbegriff der Unmenschlichkeit und Massenvernichtung. Erstmals wurden Waffen eingesetzt deren bis dahin unbekannte Wirken Angst und Schrecken verbreiteten. Die Menschen an der Saar litten während des Krieges unter Lebensmittelknappheit und Arbeitsmangel. Die Landwirtschaft in den Dörfern kam zum Erliegen. Dennoch herrschte eine hochpatriotische Stimmung an der Saar.
Wie aber sah es damals zu Kriegsbeginn in unserem Dörfchen aus? Ein Versuch einen Tag in Dirmingen im Jahre 1914 zu rekonstruieren, sollte naturgemäß scheitern. Schließlich war ich aus natürlichen Gründen selbst nicht dabei. Ich habe einmal mehr versucht einen Tag in Dirmingen im Jahre 1914 nachzustellen. Ich werde bei diesem Versuch bestimmt nicht frei von Fehlern gehandelt haben. Dennoch oder “graad se lääds” möchte ich es wagen:


Als der Schulchronist der evangelischen Volksschule Jakob Heintz am frühen Morgen des 31. Juli 1914 seine Wohnstube, im evangelischen Pfarrhaus verlässt, fällt ein leichter Nieselregen. Es ist Freitag und über dem Dorf liegt eine gewisse Spannung. Seit Tagen geht das Gerücht um, dass der Kaiser Russland und Frankreich den Krieg erklärt. Jakob Heintz ist auf dem Weg zum „Poschde Haus“. Sein Bruder Johann Nikolaus Heintz leitet seit Jahren die Post gegenüber der Dorfkirche. Als Jakob Heintz das „Poschde Haus“ erreicht ist es 07:45 Uhr. Vor der großen Haustür stehen zahlreiche Bauern, Arbeiter und auch einige Kinder. Jakob drängt sich durch die Menschenmasse und öffnet die große schwere Tür zum „Poschde Haus“. „Was ess dann do loss“, ruft der Schulchronist seiner Schwägerin Elsbeth Heintz entgegen. Die rothaarige Elsbeth sortiert gerade die Post und blickt genervt ihrem Schwager entgegen. „Ei, die warte all‘ off Nachrichte aus’em Reich. Do ess seit de Morje die Höll‘ loss. Geh riewwa de Johann wart schon off dich.“
Jakob Heintz nickt und geht zur Wohnstube des alten Anwesens. Als er die schwere Tür zum Zimmer öffnen möchte, kommt ihm der evangelische Pfarrer Otto Bingel entgegen. „Mein liewa Jakob, do hei ess die Höll‘ loss, eich glaab mir kreen ball Kriech.“ Jakob Heintz fährt sich durch das lichte Haar hinunter zum Bart und antwortet beschwichtig: „Oh Parre, so schnell schießt de Preuß net, eich glaab, die wärre sich noch allegarre besinne.“ Der Pfarrer nickt resigniert und legt die rechte Hand auf die Schulter von Jakob Heintz. „Mir wärre et sieht.“ Traurig setzt der Pfarrer seinen Hut auf und geht seines Weges.
Als Jakob Heintz das Wohnzimmer seines Bruders betritt, liest Johann Heintz gerade in der Zeitung. Der Postinhaber wirft seinem Bruder nur einen flüchtigen Blick zu und sagt: „Gemorje Jakob, ich hann’s gewusst, die Russe wolle Kriech on die Franzose hann uss noch lang net verzieh‘, dass se 1870 gehe uus verlor‘ hann. Mir messe en de Kriech Jakob, wart’s ab.“ Jakob Heintz nimmt tief Luft und nimmt am schweren Holztisch Platz. Der Chronist legt seinen Kopf in beide Hände und fährt sich einige Male durch das Gesicht. „Ach Johann, eich glaab do net draan, die wärre sich besinne. Eich benn komme um dir se helfe. Wat soll eich da heut no Wiesbach fahre?“ Johann Heintz legt die Zeitung nieder und erhebt sich von seinem Stuhl. Der Postinhaber geht zu einem großen Schrank und nimmt ein Paket heraus. „Dat do Packet moss heut‘ noch no Wiesbach bei Schmitz abgenn wäre, kannschd dau dat mache?“ Jakob Heintz nickt zustimmend und fährt sich erneut über die Haare. „Gebbts e Kaffee, vor meich ?““ Jo, et Elsbeth hott de morje gemacht.“
Die beiden Brüder bleiben noch eine Weile zusammensitzen. Vor dem „Poschde Haus“ in der Dorfmitte kommen immer mehr Menschen zusammen. Die Gerüchteküche brodelt seit Tagen. Die Frauen fürchten sich und viele Männer verfallen einem patriotischen Wahn. Kinder laufen mit geschnitzten Holzgewehren durch die Wälder und spielen Krieg. Schon die Kleinsten Dorfbewohner schimpfen über den Franzmann und den bösen Russen.

Es ist 11:00 Uhr als es an der schweren Wohnzimmertür des „Poschde Hauses“ klopft. „Herein,“ ruft Johann Jakob etwas streng und genervt. Bürgermeister Heinrich Schwingel betritt die Wohnung und blickt den beiden Brüdern ernst entgegen. „Ei, gemorje Bürmeischda, wat treibt deich zu uus?“ Der große Mann nimmt ungebeten am schweren Tisch Platz und zieht seinen Hut aus. Der Bürgermeister wischt sich mit seinem Sacktuch den Schweiß von der Stirn. „Dir Leut‘ dat do Werra macht mich krank. Seit Tae reent et on et ess so schwüll. Mei‘ Kreislauf macht dat net mett. On jetzt aach noch die ganze schlechte Nachrichte. Denke mol an, de Kaiser werdd de Kriech erkläre.“ Jakob Heintz hebt genervt seinen Kopf und entgegenet: „Oh Bürmeischda, eich hann et schon de Morje em Parre gesaat, so schnell schieße die Preuße net.“ Johann Heintz winkt genervt ab und blickt dem Bürgermeister fragend an: „Wie kann eich da helfe Heinrich?“
Heinrich Schwingel ist seit 1911 Ortsbürgermeister in Dirmingen. Das Amt lastet schwer auf ihm und eigentlich wollte er schon längst alles niederlegen. Resigniert antwortet Schwingel: „Eich woar heut morje en Eppelborre. Saa mol die Kenna sammele dott schon Wollsache,Altpapier, Gummi, Kupfer, Messing on Nickel vor die näschd Zeit. Saamol, wenn die Nachricht kemmt, funktioniert uusa Telegraphgerät?“
Johann Heintz bläst die Backen auf und antwortet mürrisch: „Almol, vor watt dann nett?“ Der Bürgermeister zuckt die Schulter und verlangt sich ein Glas Wasser. Die drei Männer sitzen sich still gegenüber und versinken in ihren Gedanken.
Als Jakob Heintz am Nachmittag von seinem Kurierdienst von Wiesbach zurückkommt, bemerkte er zahlreiche Dorfbewohner die an der Eisenbahnlinie, dem Hochbehälter und am Kirchberg, die mit Gewehren Wache hielten. Jakob hielt das Auto an und rief Georg Guthörl herbei. „Sa mol Georg, wat mache ihr dann do?“ Der Landwirt blickte den Chronisten streng ins Auge und antwortete dann: „Ei mir halle Wach, hascht dau nett geheert, dat der Franzmann e haufe Spione do rum laafe hat? Die wolle ussa Wasser vegifte, dat losse mir net zu.“ Jakob Heintz konnte es nicht fassen und erwiderte: „ Awei loss no, Georg. Ihr mache euch allegare verreckt.“ Der Landwirt winkt zornig ab: „Dau werschd schon sieh’n Jakob.“
Jakob Heintz parkt den Wagen vor dem „Poschde Haus“. Es ist kurz vor 14:00 Uhr. Jakob steigt aus dem Wagen aus und geht Richtung „Poschde Haus“. Johann Heintz kommt ihm entgegen und nimmt die Schlüssel in Empfang. Die beiden Brüder nicken sich zu und gehen getrennte Wege. Als Jakob Heintz zuhause ankommt, wartet seine Frau Else bereits auf ihn. „Wo bleibschde Mann, de Parre hat schon no dir gefroot?“ Jakob winkt ab und entgegnet: „Zieh da ebbes aan Frau, komm ma gehe e bisje spaziere.“ Seine Frau runzelt die Stirn und antwortet irritiert: “Jetzt aweile om die do Zeit?“ Jakob Heintz holt tief Luft und sagt: „Jo, ich muss raus, de Kopp frei kreen.“
Es war 15:00 Uhr, die Pause hatte begonnen, die Kinder spielten auf dem Schulhof als Else und Jakob Heintz auf der Straße vor dem Schulhaus vorbei spazierten. Plötzlich kam Elsbeth, seine Schwägerin, ganz aufgelöst aus dem Haus herausgestürmt. Mit bewegter Stimme rief sie: „Es gebbt doch Kriech! Ewe es et komm. Ich soll de Geheimbrief offmache on benn Alleen. Eich hann so Angschd. De Johann es drausse offm Kornfeld. Kannschd dau ne rufe gehen Jakob?“
Jakob blickte seine Schwägerin erschrocken an und erwiderte: „Werklich Elsbeth, ei jo sicher, eich gehen dabba?“ Die beiden Frauen bleiben zurück und fallen sich in die Arme. Jakob hat Tränen in den Augen. Er hatte es bis zuletzt nicht kommen gesehen.


Noch am selben Tag erhielten etwa 20 Reserve- und Landwehrleute aus Dirmingen ihren Gestellungsbefehl. Unteroffizier Molter aus Dirmingen leitete schon am späten Abend eine Wacheinheit der Bahnstrecke Wemmetsweiler-Primsweiler. In den nächsten Tagen wurde in der Ortsmitte in Höhe der Brauerei eine Straßensperre eingerichtet, an der alle Verkehrsteilnehmer sich ausweisen mussten.
Der erste Weltkrieg wurde zur Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Als die Soldaten „zu den Waffen“ gerufen wurden, glaubten viele an einen kurzen Abschied von Frau und Kind. Bald würde man wieder zu Hause sein! Spätestens bis Weihnachten sollte der Spuk vorbei sein. Als die Soldaten in den Krieg zogen wurde ihnen frenetisch zugejubelt. Beim Gesang der Lieder „Die Wacht am Rhein“ oder Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ zogen die Männer in ihr Verderben.
Diese Geschichte ist auf der Grundlage historischer Ereignisse frei erfunden, wobei es die namentlich erwähnten Personen tatsächlich gegeben hat. Ziel ist es den Lesern und Menschen unseres Heimatortes die Geschichte Dirmingens näher zu bringen und dem Vergessen entgegenzuwirken. So wie in dieser frei erfundenen Geschichte, könnte es sich am Ende tatsächlich zugetragen haben !