Wenn unser Dorf schläft – nachts in unseren Straßen
Hinter den Gardinen und den verschlossenen Rollläden herrscht Ruhe. Das Dorf schläft und erholt sich von dem nervenden Alltagstrott. Manchmal genieße ich es nachts allein in der Dunkelheit durch unsere Straßen zu ziehen, um die Gedanken fließen zu lassen. Hin und wieder kreuzt eine Katze meinen Weg. Seltsame undefinierbare Geräusche vermischen sich mit schnell vorbeirasenden Autos. Vereinzelt treffe ich irgendwelche unbekannte Menschen, die auf der anderen Straßenseite ohne Gruß an mir vorübergehen.
Ich habe keine Angst in der Dunkelheit. Ich liebe die Nacht. Ohne die Nacht gäbe es keinen Tag und ohne Licht kein Schatten. Die Nacht bringt uns Ruhe und Zeit zur Erholung. Als Kind fürchtete ich mich in der Dunkelheit. Irgendwo in der Nacht, so dachten mein Bruder und ich, lauert das Böse. Heute kommt es mir so vor, als ob der Tag mehr Hass als die Nacht bringen würde.
Mit dem Einbruch der Dämmerung beginnt in der Natur ein wildes Treiben. Wildkatzen, Eulen, Wildschweine oder Füchse nutzen die menschenleeren Straßen. Unsere unbefahrene Hauptstraße, der hell beleuchtete Bahnhofsplatz, der dunkle Brühlpark oder das vereinsamte Belkerstadion. In der Ortsmitte erkennt man, hinter einem dunklen Schleier, dass weiße Gemäuer der Stengelkirche. In Zeiten der Pandemie und der damit verbundenen Angst sind wir sensibler und feinfühliger geworden. Diese Zeit macht uns deutlich, dass unser Leben endlich ist.
Die ersten Zeitungsausträger rennen von Haus zu Haus und dort wo das Licht gerade erst ausgemacht wurde, machen sich anderorts die ersten Leute auf den Weg zur Frühschicht. In unseren Straßen ist nachts mehr los als man denkt. Der Schein und die damit verbundene Ruhe trügt. Ich muss unweigerlich an diejenigen denken die nicht mehr unter uns sind. Viele gute Freunde haben wir in den vergangenen Monaten verloren. Dieses Jahr hat uns vieles abverlangt und so manches Opfer gefordert. Irgendwo wird gerade ein Kind liebevoll in den Armen gehalten. Anderswo trauert jemand um seinen Liebsten. Es ist ein Kommen und Gehen.
Ich ziehe meinen Kragen nach oben, es ist kalt. Was mag sich wohl hinter den Fenstern und Gardinen abspielen. Was ist los in unseren Häusern. Wer liegt wach und wer schläft tief und fest. Wo herrscht Angst vor dem neuen Morgen und wer ruht still in vor freudiger Zuversicht. Jeder von uns hat seine Last zu tragen. Viele von uns liegen nachts grübelnd im Bett und leiden unter einem schlafraubenden Gedankenkarussell? Gerade nachts vermischt sich die Hoffnung mit der Verzweiflung. Was wird morgen sein und kommen wir gesund durch diese unruhige Zeit. Irgendwo ertönt ein lautes Streitgespräch, anderswo liegen sich zwei liebende in den Armen. Der November macht die Sache nicht besser. Es sind kalte, trübe und neblige Tage. Dazu der Jammer um die Pandemie und die Frage wie es weiter gehen soll. Weihnachten und der Jahreswechsel stehen vor der Tür. Was bringt das neue Jahr? Es gibt Menschen, die vor Angst und Sorge nicht schlafen können.
Mein Weg führt mich am Brühlpark vorbei in Richtung Bahnhof. Die ersten Fahrgäste überholen mich eilig, um ihren Zug zu bekommen. Am Bahnhof bleibe ich kurz stehen und muss schmunzeln. Wohin führt uns wohl die Reise? Der Morgen naht und bald, wenn auch später als in den Sommermonaten, bricht die Dämmerung an. Die Menschen werden aufstehen, zur Arbeit gehen und weitermachen. Jeden Tag das gleiche Spiel. Auf die Nacht folgt der nächste Tag und wo sich das Licht ausbreitet weicht die Dunkelheit. Weitermachen, jeden Tag einfach weitermachen. Wo Licht ist, ist auch Schatten.
Am Bahnhof fahren die ersten Züge los. Hin und wieder begegnet mir jemand und raunt mir ein kantiges „Moin“ entgegen. Unser Bäcker erhält seine erste Lieferung und der Verkehr auf der Hauptstraße nimmt zusehends zu. Diese Nacht geht bald zu Ende und wenn dann das Morgenlicht über die Dächer unserer Heimat kriecht, spüre ich diesen besonderen Zauber.
Als Kind durfte ich hin und wieder bei meiner Großmutter schlafen. Wenn es dann ganz ruhig und dunkel war flüsterte meine Oma:“…kannst du es hören? Nein Oma, was hören? Na, hörst du nichts? Nein, Oma ich höre nichts! Na, wenn du ganz ruhig bist und genau hinhörst, wirst du draußen das Herz unseres Dorfes hören“.
Bildquelle: Erich Pfeiffer