Dirmingen – Ein Tag im Jahr 1948

Die Nachkriegszeit war geprägt von Verzicht und Entbehrungen. Ich habe mir die Frage gestellt, wie damals die Menschen den Alltag in unserem Heimatort erlebt haben.

Dirmingen im Jahre 1948. Kinder spielen auf den zerstörten Straßen mit verlorener Munition und vergessenen Waffen, die sie irgendwo in den Ruinen fanden. Das Saargebiet gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg als Teilgebiet zu der französischen Besatzungszone. Im Oktober 1946 wurde unser Land aus verwaltungstechnischen Gründen aus dieser Besatzungszone ausgegliedert. Von 1947 bis Ende 1956 war das Saarland einer eigenen Behörde unterstellt, die von einem Hochkommissar Frankreichs kontrolliert wurde. Die Verfassung des Saarlandes trat nach den ersten Landtagswahlen 1947 in Kraft. Die Eigenständigkeit unseres Landes, wurde durch eine eigene Staatsangehörigkeit, eigene Flagge, eine eigene Hymne und ein eigenes Landeswappen symbolisiert.

Wie aber sah es damals, kurz nach Kriegsende, in unserem Dörfchen aus? Ein Versuch einen Tag in Dirmingen im Jahre 1948 zu rekonstruieren sollte naturgemäß scheitern. Schließlich war ich aus natürlichen Gründen selbst nicht dabei. Selbst mein Vater war zu diesem Zeitpunkt erst 4 Jahre alt und hat kaum noch Erinnerungen an dieses Jahr 1948. Ich habe es dennoch versucht einen Tag in Dirmingen, im Jahre 1948, nachzustellen. Ich werde bei diesem Versuch bestimmt nicht frei von Fehlern gehandelt haben. Dennoch oder „graad se lääds“ möchte ich es wagen:

Morgens 04:00 Uhr: Bäcker Härtel blickt aus seiner Backstube und grüßt die vorbeigehenden Bergleute, die irgendeine Mitfahrgelegenheit nutzen oder zu ihrer Grube wandern. Für die Hütten- und Bergleute aus unserem Dorf ist es jeden Morgen das gleiche Spiel. Morgens in aller Frühe los und am späten Nachmittag wieder Nachhause. Nach der Schicht findet das Leben eines Bergmannsbauern statt. Die eigene Landwirtschaft fordert ihren Tribut.

Der Blick des Bäcker Härtel wandert über die „Alte Mühle“ über das Gasthaus „Schuhhannesse“ hinauf zu der bald fertiggestellten neuen katholischen Kirche auf dem Gänseberg. „Was hat sich die dortige Kirchengemeinde für Arbeit aufgehalst“ denkt er und geht zurück in seine Backstube. Bis zur Fertigstellung der neuen katholischen Kirche werden noch zwei weitere Jahre vergehen. Unweit von seiner Bäckerei liegt der Bahnhof. Bäcker Härtel hört die ersten Züge einfahren und wiederum die nächsten verlassen. Die 8 Gleise sind immer noch gut zu erkennen, wobei der Krieg unserem Dorf böse Wunden zugefügt hat. Es wird noch eine Zeitlang dauern, bis der altehrwürdige Bahnhof wieder hergestellt sein wird.

Aufbruchstimmung in der Ortsmitte. In Höhe der Schäfer Brauerei beginnt das Verladen der Fässer und Flaschen auf die Bierautos. Lauthals wird über den Hof gerufen, niemand nimmt hier Rücksicht auf das schlafende Volk. Die Autos müssen raus um den goldenen Gerstensaft auf die Zechen bringen. Die Brauerei musste in Zeiten des Krieges vieles erdulden. Zeitweise wurde das Unternehmen stillgelegt. Die Brauerei benötigt dringend Einkünfte. Die gerade neu abgeschlossenen Verträge mit den saarländischen Gruben und ihren Kantinen lässt das Familienunternehmen neu hoffen.

Ein paar Meter weiter verlassen die ersten Lieferfahrzeuge der Firma Höll das firmeneigene Gelände. Wilhelm Höll hat das Unternehmen im Jahre 1930 in unruhigen Zeiten von seinem Vater Hans übernommen. Kritisch blickt er aus seinem Büro über den Hof. Schichtwechsel! Einige müde Arbeiter verlassen nach der Nachtschicht das Werksgelände während andere wiederum zur Frühschicht den Hof betreten. Die Infrastruktur unseres Heimatortes basierte nach dem zweiten Weltkrieg zu großen Teilen auf der hiesigen “Schäfer Brauerei” und auf dem Wurstfabrikanten “Höll”.  Wilhelm Höll denkt zurück an die Anfangszeiten: Zweimal in der Woche spannt der Vater den großen Bernhardiner vor den zweirädrigen Karren, hievt den Kessel mit dem brühend heißen Wurstwasser und den darin schwimmenden Fleischwurstringen auf den Karren und zog durch die Straßen des Dorfes. Die Bergleute im Dorf nahmen immer einen Lyoner mit zur Schicht. So kommt es, dass wenige Jahre später zweimal in der Woche vom Hof der Metzgerei ein dreirädriger Holzvergaser die Kantinen der saarländischen Kohlegruben und Hütten abfährt.

Irgendwo kräht ein Hahn. Die ersten Bauern sind längst mit ihrem Tagewerk beschäftigt. Es ist Spätsommer und sehr bald soll die Ernte eingefahren werden. Neben dem altehrwürdigen Evangelischen Pfarrhaus ist der Bauer damit beschäftigt sein Vieh zu füttern. Das gleiche wird wohl auf den anderen Höfen in Dirmingen geschehen. Landwirtschaft spielt eine gewichtige Rolle. Gleich um die Ecke schreitet der Metzgermeister Karl Ludwig Eigner, in den frühen Morgenstunden, zu seinem blutigen Handwerk. Im Dorf wurde täglich geschlachtet. Dabei verrichteten nicht nur die Metzger ihr blutiges Handwerk, sondern auch die Bauern. Schweine können wie Kinder schreien und wittern genau die Gefahr.

Lehrer Fritz Reutler trifft die Vorbereitungen für seinen Unterricht. Der Lehrer hat bereits den ersten Weltkrieg überstanden und kennt die Auswirkungen des Krieges auf seine Schülerinnen und Schüler. Viele Kinder haben mit ihren Erlebnissen zu kämpfen und finden nur schwer zurück ins Leben. Gottlob hat die neue im Jahre 1933 erbaute Schule die Kriegswirren ohne größere Schäden überstanden.

Im Dorf grüßen sich die Hausfrauen. Manche von Ihnen sind auf dem Weg zur Ill um ihre tägliche Wäsche zu waschen. Andere beschäftigen sich mit der Hausarbeit. Dabei muss nicht nur das Haus sondern auch der Stall oder die Waschküche sauber gehalten werden. Meistens befindet sich in einem Stallanbau oder einem Keller ein großer kohlebefeuerter Herd, der zum Kochen und Einkochen und zum Heizen an Waschtagen dient. Das heiße Wasser wird in einem eingemauerten Kessel zubereitet. Dort werden Würste gebrüht oder auch Pflaumenmus oder Marmeladen eingekocht. Jedes Haus hat einen Keller oder einen Lagerraum, in dem Kartoffeln, Äpfel und Rüben gelagert werden.

Gegenüber der Metzgerei Eigner beginnt im Dirminger Lichtspielhaus das Saubermachen. Die letzte Nachtvorstellung endete spät und dass Kino muss für die nächste Vorstellung vorbereitet werden. Wieder ein paar Meter wicht die Putzfrau den „Johne Saal“. Schon bald werden die ersten Gäste für den Frühschoppen erwartet.

Es ist Mittag, die Kirchenglocken läuten. Schon bald soll die Kirche in der Ortsmitte nicht mehr allein läuten müssen. Pfarrer Engel schaut gebannt auf den Rotenberg. Wie lange werden die dortigen Bauarbeiten zum Bau einer neuen Kirche noch andauern?

Die Spuren des Krieges sind im Dorf noch gut spürbar. Das seit Jahrhunderten angespannte Verhältnis zwischen den Katholiken und Evangelischen in dem Dorf ist jedoch besser geworden. Pfarrer Engel war noch an der Front als er seiner Frau den Auftrag gab Pastor Didas nach der Zerstörung der katholischen Kirche die Hand zu reichen und die eigene Kirche zur Mitnutzung anzubieten.  Nun wird die Evangelische Kirche schon seit fast 3 Jahren als Simultankirche von beiden Konfessionen genutzt. Wer hätte gedacht, dass es so gut funktioniert Pfarrer Engel zieht den Mantel hoch und geht in Richtung Pfarrhaus.

Am Gemeindehaus herrscht reges Treiben. Immer noch schauen täglich französische Besatzer vorbei. Ortsvorsteher Georg Gräßer verlässt das Gemeindehaus in Richtung „Karls Wirtschaft“. Jeden Morgen das gleiche Ritual nach dem Besuch bei „Karls Bäckerei“ macht er seinen Rundgang durch das Dorf. Diesmal führt sein Weg jedoch zunächst auf den Gänseberg. Am 15. September 1947 wurde die Baugenehmigung für den Wiederaufbau der katholischen Kirche erteilt. Die Pläne für das neue Gotteshaus, das an der gleichen Stelle wie der Vorgängerbau erbaut werden soll, entwarf Architekt, Kirchenbauer und Hochschullehrer Dominikus Böhm aus Köln. Im Mai 1948 war der erste Spatenstich und schon am 4. Juli 1948 die Grundsteinlegung. Es ist September heute kommt der Architekt Dominikus Braun auf eine Stippvisite nach Dirmingen, um sich von den Bauarbeiten einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Georg Gräßer freut sich darüber das die Baumaßnahmen so schnell voranschreiten. Nun muss er sich aber beeilen, Pastor Didas erwartet ihn schon und er mag keine Verspätung.

Beim Gang auf den Gänseberg blickt er in Richtung Anhöhe Rotenberg. Hier wüteten die Jabos besonders schlimm. Immer noch werden von Bergungstrupps und Kampfmittelräumdiensten Blindgänger gefunden. Wann wird dieses Dorf in eine bessere Zeiten starten. Vor gar nicht langer Zeit gab es im Dorf einen Unfall mit Blindgängern, dabei wurden auch Kinder verletzt. Kopfschüttelnd marschiert er Richtung Kirchenneubau. Dieses Dorf hat im Krieg genug bezahlt.

Es ist Nachmittag. Über das Dorf weht der Geruch von Biermaische und frischgemachtem Heu und Kuhmist. Im Jahre 1940 wurde das alte Gast -und Bauernhaus Guthörl gegenüber der heutigen Wirtschaft abgerissen und eingeebnet. Der Krieg hat tiefe Wunden geschlagen und die Leute brauchen Hoffnung und Mut. Abends werden an der Theke in „Schuhhannesse- Wertschaft“ gemeinsam neue Pläne schmieden. „Schuhannesse“ erwartet die ersten Erzfuhrwerke die abends aus dem Hochwald kommen und am besten auch in Dirmingen eine Übernachtungsmöglichkeit suchen. Schon am nächsten Tag geht es für diese Fuhrwerke weiter gehen in Richtung Neunkircher Eisenwerk, um sich dort der Fracht zu entledigen. Auf dem Rückweg transportieren diese Fuhren Kohle für den Hochwald.

Kinder laufen spielend durch die Straßen. In der Ortsmitte ruft irgendeine Mutter nach ihren Kindern. Bäcker Härtel steht auf seiner Haustreppe und blickt wieder in Richtung Dorfmitte. Er wird noch einige Stunden schlafen bevor der Wecker mitten in der Nacht läutet und zum Tagwerk ruft. Morgen wartet ein neuer, arbeitsreicher Tag in einer Zeit zwischen Aufbruch und Entbehrung.

Die Handlungen wurden von mir frei erfunden. Ich beziehe mich in diesem Text auf die geschichtliche Grundlage unseres Heimatortes. So könnte es sich in etwa zugetragen haben !

3 Kommentare

  • wolfgang böckel

    Auch wenn Du schreibst diese Erzählung sei frei erfunden, so stimmt diesnicht ganz. Viel davon ist nachvollziehbar annähernd so und nicht anders geschehen. Vielen Dank dafür. Einiges noch zu den Bildern dieser Erzählung: schön wäre es den Bildern einen Kommentar zur Entstehungsgeschichte und den gezeigten Ansichten beiztufügen. Wer von den „Jungen“ weiß denn wen und was das zudieser Zeit längst abgerissene Haus rechts neben dem uns Alten bekannten „Kindergarten“ vor der evangelischen Kirche war? Die Chronisten unserer Gemeinde könnten dieses aufklären. Soweit ich weiß war es der Vorgänger des ebenfalls in einem Bild gezeigten evangelischen Schulhauses.

  • Stephan Meyer

    Danke das es Menschen wie dich gibt und die Geschichte über unseren Heimatort am Leben hältst!

  • Stefanie Guthörl

    Frank mir fehlen die Worte. TOLL
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