Nie wieder, ist jetzt – Können wir mit Denkmälern unsere Erinnerungskultur stärken ?

Denkmäler erfüllen keine Hoffnungen mehr, sie taugen viel besser als Mahnmale enttäuschter Erwartungen. )

Martin Gerhard Reisenberg (*1949), Diplom-Bibliothekar und Autor

„Frank“, schallte es durch das Haus, “bist du fertig?“ Dabei stand ich längst schon seit Minuten in der Tür und wartete auf meinen Vater. Aus dem Bad hörte ich laufendes Wasser und leises fluchen. Wir waren mal wieder viel zu spät dran und mussten uns beeilen. Als mein Vater aus dem Bad gestürmt kam, griff er mich am Ärmel und stupste mich liebevoll vor sich her aus der Haustür hinaus. „Es ist Zeit“ herrschte mich mein alter Herr an und rannte an mir vorbei zu unserem alten R4.

Volkstrauertag! Ein Pflichttermin im Hause Klein. Während mein Bruder immerzu zuhause bleiben durfte, musste ich meinen Vater zum alten Denkmal auf dem Hundsberg begleiten. „Du bist der Älteste“ erklärte mir mein Vater seine Vorgehensweise. Für meinen Vater war der Volkstrauertag immer ein wichtiger Termin. Sein Vater, mein Opa Artur, verlor im Jahre 1944 an der Ostfront sein Leben im Kampf für Ehre und Vaterland. Mein Vater sagte mal zu mir:“ Ich mag keine Fahnen“. Ich werde diesen Satz nie vergessen und kann mich gut in sein Denken hineinversetzen. Dieser verdammte Weltkrieg hatte dem kleinen Knirps den Vater geraubt und meiner Oma ihren Mann. Schon mein Ur-Großvater fiel im ersten Weltkrieg in Russland. Diese beiden Weltkriege haben meiner Familie vieles genommen. Auch meine Großtante fiel während eines Bombenangriffs auf Dirmingen.

Denkmal ohne Ehrentafeln
Denkmal mit Ehrentafeln im Jahre 1965

Mein Vater hatte also allen Grund dazu den Opfern der beiden Weltkriege zu gedenken. Nein, mein Vater war alles andere als patriotisch. Irgendwie bot der Volkstrauertag jedoch immer wieder die Möglichkeit ganz offiziell den Familienangehörigen mit Stolz zu gedenken. Ansonsten wurde das Thema totgeschwiegen. Über den Krieg redete man nicht! Das war alles längst vorbei und musste nicht wieder aufgerollt werden. Wenn ich meine Oma nach dem Krieg fragte, wurde ich meistens abgespeist und des Feldes verwiesen. Nein, nach dem Krieg fragte man nicht. Nur am Volkstrauertag durfte man offen seine Gefühle und seinem Stolz freien Lauf lassen.

Wir sprinteten aus dem gelben R4 in Richtung Eingang zum Denkmal. Vorbei an dem großen silbernen Schild mit Aufschrift „Zum Denkmal“ an den großen Bäumen vorbei, die sich wie Wächter links und rechts des Weges aufbäumten. Mein Vater hatte es eilig und zerrte mich an meiner Hand in Richtung des großen Denkmals. Schon von unten konnte ich das mächtige Mahnmal erblicken. Ich hörte Blasmusik und viele Leute durcheinanderreden. Als wir endlich die paar Stufen zum Plateau des Denkmals erklommen hatten hörte auch schon die Musik auf zu spielen. Geschafft, ich merkte, dass mein Vater ruhiger wurde. Sein Händedruck wurde zarter und er blickte mich von oben zufrieden an und nickte mir zu. „Schick dich“ flüsterte er leise und nahm sofort wieder Haltung an. Der Bürgermeister und der Ortsvorsteher traten an das Rednerpult und begannen zu reden. Ich verstand nichts! Ich wusste nur, dass dieser Termin für meinen Vater sehr wichtig war. Ich stand einfach so da und musterte die vielen Menschen die anlässlich dieses „stillen Feiertages“ zum Denkmal auf den Hundsberg gekommen waren. Ich war eines der wenigen Kinder die vor Ort waren. Als zum Schluss die Nationalhymne ertönte, blickte ich in viele ergriffene Gesichter. Über viele Jahre hinweg hatte ich ein gespaltenes Verhältnis zum Volkstrauertag. Ich wusste, dass dieser Tag meinem Vater vieles bedeutete. Auf der anderen Seite hatte ich schon sehr früh gemerkt, wie sehr ich jede Form von Krieg und Gewalt verabscheute. Ich konnte es schon damals kaum verstehen, warum Menschen in den Krieg zogen. Dieses Gefühl hat sich bis heute nicht geändert.

Zeitensprung ! Als ich letztens in Richtung „Steinrutsch“ spazierte, pilgerte ich zum alten Denkmal und nahm dabei ganz bewusst den alten schon zu gewildertem Weg hinauf zur Gedächtnisstätte. Mit jedem Schritt mehr wurde ich nachdenklicher und eine gewisse Traurigkeit erwachte. Bei aller Freude über das neue 2016 eingeweihte Mahnmal auf dem Friedhof wuchs in mir die Erkenntnis, dass wir ein historisches Werk unserer Väter dem langsamen Verfall hingeben haben. Von dem alten stolzen Alleeweg aus kann man kaum noch das alte Denkmal sehen. Wenn man dann am Ende des Weges das alte Denkmal erreicht, muss man den Anblick erst einmal ertragen und verarbeiten. Die komplette Anlage ist verwildert und das Denkmal, mit seinen Sträuchern, in einem erbärmlichen Zustand. Haben wir das so gewollt?  Konnten wir nicht vorhersehen, dass mit dem Bau eines neuen Denkmals noch weniger Wert auf das alte Mahnmal gelegt wird? Ich persönlich empfand diesen Anblick des alten „Hundsberger Denkmals“ beschämend und entwürdigend.

Dabei war die Intention ein neues Mahnmal auf dem Friedhof zu erschaffen eine verständliche Entscheidung. Die meisten Dirminger sehnten sich nach der schrecklichen Schändung des alten Mahnmals auf dem Hundsberg, im Februar 2014, nach einer Lösung. Nein, wie es war konnte es nicht bleiben und wie es jetzt ist, sollte es auch nicht sein. Irgendwie hatte das alte Denkmal im Laufe der Zeit seinen Zauber verloren. Die Menschen nahmen das Mahnmal als Solches kaum noch wahr und auch die Gemeinde war nicht im Stande die idyllische Anlage, am Waldrand, zu pflegen. Die ersten Bemühungen, dass alte Denkmal zu erhalten und aufzuwerten, mussten recht frühzeitig begraben werden.

Als wir uns im Jahre 2016 auf den Weg machten ein neues Mahnmal zu schaffen, stellten sich einige Dirminger die Frage, ob man überhaupt noch ein Denkmal zu Ehren der zahlreichen Kriegsopfer benötigt. Ich persönlich denke schon und vertrete bis heute die Meinung, dass wir unser Denkmal vielmehr als Mahnmal gegen das Vergessen verstehen sollten. Kein heroisches Denkmal mit Vaterlandstolz verziert, sondern ein Gedenkmal für die vielen Opfer von Krieg, Terror und Gewalt.

Am Volkstrauertag 2016 wurde das neue Mahnmal auf dem Friedhof feierlich eingeweiht. Eigentlich war somit alles gut und genau so, wie wir es uns gewünscht hatten. Nein, es war eigentlich nicht der Plan, dass alte Denkmal dem Verfall zu überlassen. Tatsächlich sind wir nun an einem Punkt angelangt, an dem wir eine Idee brauchen. Der Ortsrat hat sich schon einige Male mit diesem Thema beschäftigt. Wie aber können wir tatsächlich verhindern, dass dieses historische Bauwerk, aus dem Jahre 1955, völlig verfällt und als Ruine im Wald dahinbröckelt? Guter Rat ist teuer. Die Gemeindeverwaltung hatte es schon damals nicht geschafft sich regelmäßig um die Anlage zu kümmern. Der Versuch einen „Pflege-Paten“ zu finden, musste ebenfalls aufgegeben werden. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es richtig und gut war ein neues Denkmal gegen das Vergessen auf dem Friedhof zu errichten. Dennoch macht mich der Zustand des alten Mahnmals auf dem Hundsberg traurig.

Beide Weltkriege haben in Dirmingen tiefe Spuren hinterlassen. Bereits am 28.August 1928 wurde das erste Denkmal, an gleicher Stelle wie das heutige vom Zerfall bedrohte Mahnmal, auf dem Hundsberg eingeweiht. Dieses Denkmal stand auch während des zweiten Weltkrieges und verfiel im Laufe der Jahre ebenfalls in einen erbärmlichen Zustand. In den frühen 1950-ger Jahre wurde auch dieses eher heroisch wirkende Denkmal baufällig und musste von der Verwaltung zurück gebaut werden. Mit großem ehrenamtlichem Engagement wurde ein neues Denkmal an gleicher Stelle in Auftrag gegeben und erbaut.

Am 06.November 1955 fand die Einweihung dieses heutigen heruntergekommenen Denkmals auf dem Hundsberg statt. Im Frühjahr des Jahres 1965 wurden Namenstafeln angefertigt und an einer Mauer hinter dem Denkmal angebracht. Ich erinnere mich: Nach jeder Volkstrauertags Zeremonie standen zahlreiche Menschen vor den Ehrentafeln und suchten die Namen ihrer Familienangehörigen. Heute befindet sich eine neue Ehrentafel in der Einsegnungshalle auf dem Friedhof. Auch diese Tatsache sorgte bereits für genügend Gesprächsstoff. Nach den Namen seiner Angehörigen kann man dort leider nur suchen, wenn die Einsegnungshalle geöffnet ist.

Ich frage mich, ob es noch irgendeine Chance gibt, dass alte Denkmal in irgendeiner Form zu erhalten. Müssen wir wirklich zusehen, wie dieses Bauwerk verwuchert und völlig verfällt? Die Gemeindeverwaltung verfolgt Pläne, dieses alte Bauwerk irgendwann zurück zubauen. Bleibt die Frage, ob wir tatsächlich in der heutigen Zeit noch ein Denk- oder Mahnmal benötigen? Das Gedenken an Helden und verdienstvolle Mitbürger fällt leicht. Mit dem Gedenken für Opfer – und auch daran, dass es unter unseren Soldaten auch Täter gab – ist es weitaus schwieriger umzugehen. Ist so ein Gedenkort heute noch notwendig? Wie gesagt, nur wenn wir aus dem Wort Denkmal ein Mahnmal machen, wird ein Schuh daraus!  Wir leben in unruhigen Zeiten und aus meiner Sicht sind Denkmäler und die damit verbundene Erinnerungskultur, gerade heute, gerade jetzt wichtiger denn je. Mensch, vergiss nicht was deinen Vätern geschah !

Jede oder Jeder von uns hat im Laufe der beiden Weltkriege Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte verloren. Seit 1992 verloren bei Auslandseinsätzen unserer Bundeswehr insgesamt 108 Soldaten ihr Leben. Das Gedenken an diese Opfer wird aus meiner Sicht zu wenig gepflegt. Unsere Welt ist voller Hass und Gewalt. In Europa herrscht 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wieder ein schrecklicher Krieg, in dem jeden Tag auch Kinder und Frauen sterben. Denkmäler wurden in einer friedlichen Zeit errichtet. Meistens entstanden diese Bauwerke aus Ehrfurcht, aus Dankbarkeit, zur Propaganda oder auch aus einem gewissen Schamgefühl heraus. Am besten sie gehen aus Trauer und einem stillen Gedenken hervor. Denkmäler müssen immer wieder neu gelesen, hinterfragt und interpretiert werden. Unsere persönliche Auseinandersetzung mit Denkmälern ist auch eine Abrechnung mit der eigenen Geschichte.

Heute werden Volkstrauertags Zeremonien nur noch mäßig besucht. Gerade junge Menschen machen sich kaum noch auf den Weg, um eine solche Veranstaltung zu besuchen. Am diesjährigen Volkstrauertag, 19.November werden wieder vielerorts Kränze niedergelegt. Auch in Dirmingen wird dies, am neuen Mahnmal, auf dem Friedhof um 14:00 Uhr Ortszeit geschehen. Seit dem Bau des neuen Denkmals auf dem Friedhof im Jahre 2016 pflegt der Ortsrat wieder die Tradition der Kranzniederlegung zum Volkstrauertag. Die Bevölkerung nimmt daran mal mehr oder weniger teil. Auch hier stellt sich wieder die Frage, brauchen wir noch diese Zeremonie der Kranzniederlegung oder ist dies alles längst überholt? Ich sehe es an meinen Kindern, die Bindung zu den beiden Weltkriegen ist nicht vorhanden und auch die Tatsache, dass ihr Ur-Ur- Großvater und der Ur-Großvater den beiden Kriegen zum Opfer fielen, ändert nichts daran. Man kann und darf das der heutigen Generation nicht vorwerfen. Unsere Kinder wurden in Friedenszeiten geboren und haben Gott sei Dank keine Kriegswirrungen erfahren. Ich hoffe das bleibt auch in Zukunft genauso!

“Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen”.

Albert Schweitzer

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