«Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euren Herz gelegt! – Volkstrauertag 2023 – Meine Gedanken und meine Worte zum diesjährigen stillen Gedenktag
Draußen vor der Festung, bis zum Horizont, Lagern sie und warten, näher rückt die Front, Grollende Kanonen, Angst in ihrem Blick, Hunger reckt die Arme, nirgends geht’s zurück, Aufmerksam die Wachen, kalt und konsequent, Selbst schuld, wer den Schädel gegen Mauern rennt, Du wirst nie zu Hause sein, Wenn du keinen Gast, keine Freunde hast, Dir fällt nie der Zauber ein, Wenn du dich verschließt, nur dich selber siehst !
Quelle: Lied: „Alle Herren Länder“ Heinz Rudolf Kunze
Der Volkstrauertag findet jedes Jahr zwei Sonntage vor dem ersten Advent statt. Damit fällt dieser stille Gedenktag zwischen die katholischen Gedenktage Allerheiligen/Allerseelen und den protestantischen Totensonntag. Seinen Ursprung hat der Volkstrauertag im Gedenken an die getöteten Soldaten des Ersten Weltkrieges. Nach Kriegsende 1918 setzen sich unter anderem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Politiker und Vereine für das Gedenken an die gefallenen deutschen Soldaten ein. Damals ging es in erster Linie um Heldenverehrung und Anteilnahme der Angehörigen. Nach dem Waffenstillstand im Jahr 1945 war die Erinnerungskultur im geteilten Deutschland zunächst unterschiedlich ausgeprägt. Die Bundesrepublik verlieh dem Volkstrauertag im Jahre 1952 den Status eines gesetzlichen Gedenktags. An diesem Tag sollte den Opfer von Krieg, Terror und Gewalt erinnert werden.
Während der Volkstrauertag in den letzten Jahren immer mehr an Zuspruch verlor, scheint er in diesem Jahr an Aktualität hinzugewonnen zu haben. In unserem Heimatort Dirmingen mussten während der beiden Weltkriege fast 300 Menschen ihr Leben lassen. Darunter waren Soldaten, Familienväter, junge Männer und zahlreiche Opfer aus der Zivilbevölkerung. Auch Frauen und Kinder kamen während den verheerenden Bombenangriffen auf Dirmingen zu Tode. Heute müssen wir mehr als zuvor fürchten, dass unsere Soldaten wieder für unsere demokratische Freiheit kämpfen müssen. Der Volkstrauertag bleibt aus meiner Sicht ein wichtiger Tag gegen das Vergessen. Mit dem Bau eines neuen Mahnmals auf dem Dirminger Friedhof, im Jahre 2016, hat der Ortsrat Dirmingen beschlossen wieder eine offizielle Kranzniederlegung durchzuführen. Dabei wird der Ortsrat immer von den beiden Kirchengemeinden, dem evangelischen Posaunenchor Dirmingen und der Reservistenkameradschaft Illtal unterstützt. Wir haben in Dirmingen auch am diesjährigen Volkstrauertag, dem 19.November 2023, einen Ehrenkranz für unsere Kriegsopfer niedergelegt. Ich bin freue mich sehr darüber, dass der Ortsrat an dieser Tradition der Kranzniederlegung zum Volkstrauertag festhält, Schön, dass dabei immer noch zahlreiche Menschen aus der Dorfgemeinschaft an dieser Zeremonie teilnehmen.
Hier meine Rede zur Volkstrauertagszeremonie 2023:
Sehr geehrte Pfarrerin Britt Goedeking, Sehr geehrte Herr Dechant Pfarrer Thieser, sehr geehrter Herr Beigeordneter Michel vielen Dank für ihren Besuch in Vertretung unseres Bürgermeisters, verehrte Mitglieder des Orts- und Gemeinderates, sehr geehrter Mitglieder der Reservistenkameradschaft Illtal, liebe Mitglieder des Löschbezirks Dirmingen, Geehrter Herr Schuhmacher, Verehrte Mitglieder des evangelischen Posaunenchores Dirmingen vielen Dank für die musikalische Umrahmung, sehr geehrte anwesende Mitbürger, vielen Dank, dass Sie alle mit mir gemeinsam diese Kranzniederlegung am Volkstrauertag zelebrieren.
«Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euren Herz gelegt!» Mit diesem Zitat der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ möchte ich Sie zu unserer diesjährigen Volkstrauertags Zeremonie begrüßen.
Der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewalt. Zeitgleich stellt uns dieser stille Gedenktag jedes Jahr aufs Neue vor die Frage, wie wir heute auf Krieg, Gewalt und Terror reagieren. Welche Bedeutung hat gerade in diesen Tage Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit? Brauchen wir mehr als 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg immer noch einen solchen stillen Gedenktag?
Ja, wir brauchen ihn! Wir brauchen ihn aus Respekt vor den Millionen Opfern von Krieg und Gewalt. Wir brauchen diesen Tag zum Innehalten und zum persönlichen Einordnen der kriegerischen oder terroristischen Geschehnisse. Jeder von uns hat während den letzten Weltkriegen Menschen aus seiner Familie verloren.
Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben Millionen von Opfern gefordert. Hinzu kommen Millionen Menschen, die verwundet, verstümmelt oder entsetzlich entstellt wurden. Angesichts der unzähligen Opfer von Krieg, Terror und Gewalt versagt unsere Vorstellungskraft.
Mehr als 3.300 Bundeswehrangehörige sind seit der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 in Ausübung ihres Dienstes ums Leben gekommen, 116 von ihnen starben im Auslandseinsatz oder in anerkannten Missionen. In den letzten Jahren ist der Krieg langsam und schleichend in unsere Wohnzimmer zurückgekommen. Wir fürchten, dass unsere Soldaten in Zukunft verstärkt zu den Waffen gerufen werden.
Die Angst vor einem neuen Weltkrieg und einem Nuklearkrieg ist allgegenwärtig und seltsamerweise näher als je zuvor. Der Holocaust- Überlebende Max Mannheimer sagte einmal: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht. “ Sind wir im Begriff zu versagen?
Letztens bin ich in den sozialen Medien über einen interessanten Post gestolpert. Darin war zu lesen:“ … und wenn Euch Eure Kinder morgen fragen, „Was habt Ihr dagegen getan“, wollt Ihr dann wieder sagen „Wir haben nichts gewusst?“ Zugegeben erweise bezog sich dieses Zitat auf den aufflammenden Antisemitismus und die Ausländerfeindlichkeit in unserem Land. Aber irgendwie zieht man zwangsläufig einen Vergleich zu den Kriegen dieser Welt.
Nach dem ersten Weltkrieg musste unser Heimatort Dirmingen 55 Menschenopfer beklagen. Dabei handelte es sich in diesem Krieg überwiegend um Soldaten, die an der Front starben. Der zweite Weltkrieg riss noch größere Wunden in unseren Heimatort. Am Ende verloren 182 Menschen in den Kriegswirren ihr Leben. Im Frühjahr des Jahres 1945 war für die Bevölkerung unseres Heimatortes der Krieg zu Ende. Am Ende des zweiten Weltkrieges war unser Heimatort mit 25 Fliegerangriffen die meist bombardierteste Ortschaft unseres Landkreises.
Erstmals waren massive Opfer in der Bevölkerung zu beklagen. Allein 20 Bürgerinnen und Bürger starben während den massiven Angriffen auf unser Dorf. Das jüngste Opfer war grade einmal zwei Jahre alt. Über 20 Gebäude darunter die katholische Kirche, das Gemeindehaus und das Feuerwehrhaus wurden zerstört. Am 13.März 1945 berichtet der Kriegsberichter, dass es nach den vielen schweren Luftangriff kaum noch ein unbeschädigtes Haus in Dirmingen gab. Am 16.März 1945 müssen in Dirmingen katastrophale Zustände geherrscht haben. Über 95% der Häuser und Gebäuden waren durch Luftangriffe zumindest in Mitleidenschaft gezogen.
Heute Gedenken wir auch den vielen Zivilisten darunter Familien und Kinder, die beispielsweise in der Ukraine oder im Gaza-Streifen unter den Kriegswirren leiden. Das alles gab es auch hier bei uns in unserem Dorf. Am 25. November 1944 um 22 Uhr: Dirmingen unter Dauerbeschuss, Trommelfeuer, Blitzlichtbombe in Höhe Gänseberg, im Dorf: Haus Jakob und Haus Kiefer total bis leicht beschädigt, mehrere Frauen verletzt, ein Offizier gefallen. Auch Erinnerungen an den Heiligabend 1944 werden wach: Haus Brück, Haus Klein, Haus Schorr, Haus Schneider und ein Bauernhaus im Müllbach vollkommen zerstört, 4 Frauen verwundet, mehrere leicht verletzt, 2 Soldaten gefallen. Ein Angriff um 12:45 und ein Angriff um 16:00 Uhr. Die katholische Lehrerin Anna Andres schrieb damals: „Am Heiligen Abend 1944 erlebte das Dorf wieder zwei schwere Jabo Angriffe und es waren Menschenleben und großer Sachschaden zu beklagen. Die Bewohner verbrachten diesen Heiligen Abend in Bunkern und Kellern. Zeitensprung! Wie mag es den Menschen in den Kriegsgebieten dieser Welt im kommenden Weihnachtsfest ergehen?
Von der Widerstandskämpferin Sophie Scholl, die ich persönlich sehr schätze und verehre stammt das Zitat; «Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für’s Vaterland.»
Liebe Gäste. Jetzt ist die Zeit, Zeichen zu setzen und aus dem Slogan „Nie wieder“ gerecht zu werden und echte Fakten zu schaffen. Wir haben uns heute hier an dem neuen Mahnmal auf dem Friedhof versammelt um den Opfern von Krieg, Terror, Fremdenhass und Gewalt zu gedenken.
Dabei hat die heutige Kranzniederlegung keinen heroischen Stellenwert. Vielmehr geht es uns darum, den Frieden und die Menschlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen unsere Gedenkstähle vor dieser Einsegnungshalle als Mahnmal verstehen. Genau unter diesem Gesichtspunkt macht eine Kranzniederlegung Sinn. An diesem Mahnmal erinnern wir uns daran, dass Krieg, Hass, Verfolgung, Fremdenhass und Terror keinen Platz in unserer Gesellschaft haben.
Ich möchte mit einem weiteren Zitat von Sophie Scholl enden:“ «Man muss etwas machen, um selbst keine Schuld zu haben. Dazu brauchen wir einen harten Geist und ein weiches Herz. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur suchen wir sie zu wenig.»
Dieses Mahnmal soll uns immer wieder seine wahre Botschaft vor Augen führen: Nie wieder Krieg! JETZT ist Nie wieder! Lassen Sie uns unmittelbar nach der Kranzniederlegung bei der Musik des Posaunenchors ein persönliches Zeichen des Friedens setzen. Reichen wir uns die Hände und setzen ein gemeinsames Zeichen für Frieden, Menschlichkeit und Freiheit.
In Gedenken an die Opfer von Krieg, Terror, Fremdenhass und Gewalt insbesondere auch in unserem Heimatort Dirmingen legen wir im Namen unserer Dorfgemeinschaft und des Ortsrates Dirmingen diesen Ehrenkranz nieder.
Ortsvorsteher
Frank Klein