Dirmingen – Ein Tag im Jahr 1961

Fastnacht im Jahre 1961. Lachen, Tanzen und schunkeln gehören fest zur närrischen fünften Jahreszeit. Das Land befindet sich immer noch im Wiederaufbau. Längst sind noch nicht alle Häuser und Gebäude, die im Krieg zerstört wurden, wieder hergestellt. Nach der Volksabstimmung und der anschließenden Rückgliederung des Saarlandes wurde das Saarland zum 10 deutschen Bundesland der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Krieg kehrten nur langsam die alten deutschen Brauchtümer in das Bewusstsein der Menschen zurück. Fastnacht wurde auch während der Weimarer Republik und der NS-Regimes gefeiert. Die Nazis nutzten die fünfte Jahreszeit gerne für die Inszenierung der sogenannten „Volksgemeinschaft“. Dabei duldeten die Nazi-Schergen längst nicht alle Traditionen. Männer in Frauenkleidern waren beispielsweise nicht gerne gesehen. In vielen Städten übernahmen Nationalsozialisten die Regie über den Karneval. Ende der 1950-er Jahre löste sich die Gesellschaft allmählich von ihrer Vergangenheit und versuchte auch im Karneval neue Wege zu finden.

Wie aber sah es damals in den 1960-er Jahren in unserem Dörfchen aus? In Dirmingen boomte die Wirtschaft. Die “Schäfer Brauerei” und die Firma Höll machten rekordverdächtige Umsätze. Die Gastronomie mit über 20 Gaststätten boomte. In mehreren Straßen existierten kleinere Kolonialwarenladen. . Im Jahre 1955 wurde die Kolpingfamilie Dirmingen gegründet. Mit einem Maskenball im Hesedenz -Saal wurde die erste närrische Veranstaltung der Untergruppierung “Abteilung Frohsinn” gefeiert. Zuvor hatte der Theaterverein Dirmingen für die ersten organisierten Karnevalsveranstaltungen und Umzüge in Dirmingen gesorgt. Mit der Gründung der Kolpingfamilie Dirmingen bekam die “Derminga Faasend” ihre erste eigene organisierte Kultur zugesprochen. Nach dem ersten Maskenball folgten die ersten legendären Kappensitzungen im Hesendenz- Saal. Längst waren noch nicht alle Narben des zweiten Weltkrieges verblasst. Durch unser Dorf klaffte immer noch eine große Wunde. Katholiken und Protestanten gingen sich lieber aus dem Weg. Während im “Ortsteil Müllbach” überwiegend katholische Bürgerinnen und Bürger wohnten, lebten in der Ortsmitte und auf den Hügeln meistens evangelische Christen. Die ersten Karnevalsveranstaltungen der Kolpingfamilie wurden überwiegend katholischen Christen gefeiert. Ein Versuch, einen Tag in Dirmingen im Jahre 1961 zu rekonstruieren, sollte naturgemäß scheitern. Schließlich war ich aus natürlichen Gründen selbst nicht dabei. Dennoch habe ich einmal mehr versucht, einen Tag in Dirmingen im Jahre 1961 nachzustellen. Ich werde bei diesem Versuch bestimmt nicht frei von Fehlern gehandelt haben. Dennoch oder “graad se lääds” möchte ich es wagen:

Es ist Samstag, 05. Februar 1961. Edmund Jochum sitzt an dem schweren Schreibtisch und hat seinen Kopf auf beide Hände gestützt. Mit seinen großen Fingern fährt er sich immer wieder durch sein volles Haar. Seit Tagen feilt er an der Eröffnungsrede zu der großen Kappensitzung der noch jungen Kolpingfamilie Dirmingen. Nun ist er an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nicht mehr weiterkommt. Die letzten Monate waren äußerst strapazierend. Mit der Gründung der Kolpingfamilie am 23. Januar 1955 wurde Jochum zum Senior des noch jungen Vereins gewählt. Lehrer Jochum ist sich seiner Verantwortung bewusst und hat große Pläne. Gemeinsam mit dem Präses H.H Definitor Didas und seinem Freund Hans Recktenwald ist es ihm gelungen binnen weniger Monate einen Verein aus der Wiege zu heben. Jochum lehnt sich in seinen großen Stuhl und drückt dabei sein Kreuz durch. Sein Blick schweift am großen Bücherregal vorbei durch das Fenster hinaus zu dem großen Baum. Es ist kalt an diesem 05. Februar 1961. Seit Tagen regnet es unaufhörlich. Dieser Samstag ist für die Weiterentwicklung des Vereins sehr wichtig. Senior Jochum hat sich seit Gründung des Vereins große Verdienste um die “Abteilung Frohsinn” erworben. Heute Abend soll die jährliche Kappensitzung im “Hesedenz-Saal” stattfinden. Alles ist vorbereitet und gut organisiert. Mit der bekannten “Richard Wagner Kapelle” hofft der Verein in diesem Jahr eine neue Ära einzuleiten. Der Lehrer erhebt sich aus seinem schweren Stuhl und geht zu dem großen Fenster. Sein Blick wandert zur Straße hinunter. Als er seinen Freund Hans Recktenwald auf der Straße erkennt, muss er unwillkürlich schmunzeln. Jochum geht zum großen Wandschrank und nimmt zwei Gläser aus der untersten Schublade. Er schlendert zum großen Schreibtisch und füllt zwei Gläser aus der großen „Schäfer Bier -Literflasche“. Als es endlich läutet, stellt der die Gläser nieder und geht zur Haustür.

Es gibt keine große Begrüßungszeremonie. Die beiden Männer haben sich in den letzten Tagen und Monate zu oft gesehen. Jochum öffnet die Tür, nickt und zeigt auf sein Arbeitszimmer. Recktenwald folgt wortlos und entledigt sich seinem Mantel und seinem Hut. Im Arbeitszimmer angekommen, lässt sich Hans Recktenwald müde auf einen Stuhl niedersinken. Senior Jochum reicht seinem Kolpingsbruder das Bierglas und hebt das seine zum Prosit an. Recktenwald nimmt einen großen Schluck um seinem Freund anschließend tief in die Augen zu blicken.

„Na, Hans, gibt es Probleme?“, fragt der Senior mit einem etwas kritischen Unterton. Hans Recktenwald nimmt noch einen Schluck Gerstensaft und grinst Edmund Jochum schelmisch an. Recktenwald trägt seit Gründung der Kolpingfamilie als Theaterwart die Verantwortung. Schon vor seiner Amtszeit war Recktenwald im Theaterverein Dirmingen eine aktive Säule. Edmund Jochum wusste genau, dass er für seine „Frohsinns Abteilung“ auf die Unterstützung der ehemaligen Mitglieder des Theatervereins angewiesen war. Jochum zieht eine Augenbraue hoch und blickt seinen Freund prüfend an. „Et läuft Edmund, dat werdd schon ebbes genn“ , nuschelt Recktenwald, bevor er wieder sein Glas zum Mund führt. Nach einem weiteren großen Schluck setzt Recktenwald sein Glas nieder, atmet aus und fährt fort: “Et woar vill Ärwend, Edmund, et es guud dat ma met dem Müll Hans noch eena voar die Bütt gefonn hann. Wenn ma de Willebald net hätte, oje“

Jochum nickt erleichtert und blickt zur Uhr: “Et es schon 11:00 Uhr on ich kumme met meiner Eröffnungsred net weirra.“ Recktenwald muss schmunzeln und erwidert: “Nix naued, guck schomol, dat dau net werra en dein Pachtna Dialekt fäälschd.”“Jo“, erwidert Jochum mit einem leichten Lächeln: „Der Spaniol Nikolaus es der beschde Texter denne ma fenne kunnde, nur manchmol passt dat met dem, watt eich saan well, net so gut zesamme.“ Beide Männer beginnen unwillkürlich zu lachen. Edmund Jochum nimmt einen großen Schluck Bier und sagt: „Ich hann dem Präses Didas versprooch, dat mir e scheena Maskenball off die Bühn stelle.“ Hans Recktenwald nickt zustimmend und nuschelt: „Dat wedd schon guudd genn. Wie gedd et dann dem Präses Didas ?“ Jochem zuckt mit den Schultern.

Nach dem Mittagessen versucht Edmund Jochem ein wenig zu schlafen. Er legt sich auf die große Couch in ein Arbeitszimmer und lässt seinen Gedanken freien Lauf: „Hann mir wirklich an alles gedenkt?“ ,fragt sich der Senior. In Gedanken versunken blickt er zurück auf die Gründungsversammlung der Kolpingfamilie und an die vielen guten Gründungsmitglieder, die allesamt der heutigen Fastnachtsveranstaltung entgegenfiebern. Jochum kann nicht schlafen. Mit einem großen Seufzer steht er auf und geht zum großen Schreibtisch. Jochum ist nervös. Der Senior weiß, dass vieles an der heutigen Kappensitzung hängt. In den letzten Jahren hat sich der Verein stetig weiterentwickelt. Nun ist es Zeit die nächsten Schritte einzuleiten. Diese Veranstaltung muss die Geburtsstunde einer neuen Fastnachtstradition werden. Viele neue Ideen wurden gesponnen und auf den Weg gebracht. Erstmals wurde der Kappensitzung mit dem Slogan: “Die lachende Bütt” ein Motto zugesprochen. ” Et moss uus gelinge, dat ganze Dorf mee enzubrenge”, nuschelt der Senior vor sich hin.

Es ist 14:30 Uhr als Edmund Jochem sein Haus verlässt. Der Senior muss an die frische Luft und hat sich vorgenommen seinen Präses Didas zu besuchen. Seit einiger Zeit geht es Pastor Didas nicht besonders gut. Jochum macht sich über den Gesundheitszustand seines Präses so seine Gedanken und nimmt sich vor anschließend im “Hesendzenz Saal” vorbeizuschauen. Herrmann Hoffmann ist seit dem Morgen mit dem Bühnenbild beschäftigt. Jochum hat versprochen, die Abnahme der Bühne persönlich entgegenzunehmen. Jochum nimmt den steilen Anhang vorbei an der katholischen Kirche hin zum Pfarrhaus. Als er an der Kirche vorbeigeht, bleibt er kurz stehen und blickt empor zum Kirchturm: „Wat hat diese Gemeinde net schon alles iwwerstann“ ,nuschelt sich der Senior in den Bart. „Immer werra, es die Gemen offgestann, ach wenn et noch so schwer woar.“ Jochem nickt stolz und nimmt die letzten Schritte in Richtung Pfarrhaus. Lehrer Jochum weiß, dass die katholische Pfarrgemeinde in den letzten Jahren vieles geleistet hat. Nach der Zerstörung der Kirche wurde in kürzester Zeit mit eigenen Kräften ein neues Gotteshaus errichtet. Das alles ist jetzt schon einige Jahre her und die Gemeinde befindet sich auf einem guten Weg. „Was wäre mir ohne uusaa Pastor Didas“ ,nuschelt sich der Senior erneut in den Bart und klingelt an der schweren Tür. Der Pastor selbst öffnet die Tür und blickt seinen Freund prüfend an: „ Onn, alle Vorbereitungen getroffen ?“ Jochum nickt und fährt sich wieder durch sein volles Haar. „Allmol, Pastor, mir senn offm gudde Weech.“ „Wie kann ich dir dann helfe‘“ ,erwidert der Pastor. „Ich wollt nur nommol mit dir schwätze on frohe wie et dir gedd, Pastor.“ Der Präses nickt aufmunternd und erwidert:“ Komm ich wollt grad e bisje naus, mir geehn zesamme.“ Die beiden Männer nehmen den Weg in Richtung „Gänseberg“ und versinken im Gespräch.

Es ist 17:30 Uhr als Edmund Jochum den „Hesedenz Saal“ betritt. Hermann Hoffmann steht zusammen mit Willibald und Nikolaus Spaniol vor der Bühne. Jochum weiß, dass er viele gute, zuverlässige Helfer um sich herumhat. Zu den vielen engagierten Gründungsmitgliedern der Kolpingfamilie die sich auch aktiv an der “Derminga Faasend” beteiligten gehören: Herbert Giese, Anton Pulch, Franz Josef Spaniol, Willibald Spaniol, Josef Kirsch, Josef Pulch, Gerhard Spaniol, Anton Lambert und Günther Spaniol gehört Hans Recktenwald und Toni Bick.

„Dat Bühnenbild es werklich guudd woar, orra?“ ,poltert Jochum in das Gespräch der beiden Männer. Herrmann Hoffmann und Willibald Spaniol blicken sich kurz an und nicken zustimmend. Jochum blickt sich Saal um und fragt: „Die sechs Mann fier de Elferrat wesse jo allegare bescheed, orra?“ “Jo, jo“ ,nuscheln die beiden Männer. „On die Narrenkappe aus Papier on die Liederbücher senn aach do?“ „Jo, jo“ ,erwidern beide Männer im Einklang. „Gut so!“ ,erwidert der Senior und geht in Richtung Saalmitte. Während dem schlendern durch den Saal fragt der Senior:” Stett dei Büttered’ Willibald?” “jo,Jo”, antwortet der Karnevalist mit einem Schmunzeln im Gesicht..

Jochum dreht sich um und fragt: “Hann ihr mol die Sprechanlage kontrolliert? Geed die ach guud?“ Willibald Spaniol fährt sich über das Gesicht und wankt unentschlossen seinen Kopf. “Ey guudd“, erwidert Herman Hoffmann, “nett immer, awer ach immer öfter.“ Die Männer müssen unwillkürlich lachen. „Wenn nur dat Licht aan bleibt”, erwidert Jochum besorgt. In den letzten Wochen mussten die Freunde immer wieder feststellen, dass während den Proben das Licht ausfiel. Die drei Männer nickten sich besorgt zu.

Hans Recktenwald betritt den „Hesedenz-Saal“ und nickt schon beim hereinkommend zufrieden den Männern entgegen. „Gudd so, ihr Leit, nur schad‘, dass ma nur Plätz voar e Sechserrat hann on net wie normal voar e Elferat.“ „Dat macht nix widersprcht Senior Jochum, wenn sonschd alles klappt es dat net schlemm.“ „So, dat woar et, eich geehn Hemm mich omziehe, vergesse die Zeit net und senn pienktlich“ , zischt Senior Jochem beim Verlassen des Saals.

Seit 20:00 Uhr steht der Elfer-“Sechserrat” gespannt hinter der Tür zum großen Saal. Alle Plätze sind besetzt und die Stimmung ist heiter aber auch angespannt. Es liegt ein Knistern in der Luft. Edmund Jochem versucht den närrischen Rat aufzumuntern und ruft immer wieder heiter heraus: „Holdrio, Holdrio, Holdrio!“ „Wat haschde dann nur emma met deinem Holdrio? Et es Faasend on do heischd et Allez hopp!“ ,ruft Gerhard Spaniol dem Senior schmunzelnd entgegen. „Dat es egal, Hauptsache, ihr komme mol aus der Reserve ennaus, gleich gedd et los“ ,poltert Edmund Jochem lachend zurück.

Die Musik erklingt und die Narrhallamarsch ertönt. „Das es die Stonn“, denkt Edmund Jochem und führt seine Männer stolz in den großen Saal hinein. Die Stimmung ist großartig. Von allen Seiten erklingt es „Allez hopp, Allez Hopp, Allez Hopp“. So lange hatten sich die Männer auf diesen Moment gefreut. Endlich “Faasend” und endlich wieder Kappensitzung.

Edmund Jochem schwingt sein Narrenzepter und gerät in eine wahre Euphorie. Es sind nur noch wenige Schritte bis zur kleinen Bühne und dann kann die Show losgehen. Zwei Stufen und der Elferrat- “Sechserrat” nimmt endlich Platz auf der “großen”, närrischen Bühne. Alles lacht und gröhlt freudentrunken und beseelt. Als Edmund Jochem die letzte Stufe nehmen möchte stolpert er und kann sich im letzten Moment gerade noch auf den Beinen halten. Der ganze Elferrat- “Sechserrat” reagiert blitzschnell und macht aus der Not eine Tugend. Wie eingeprobt ruft der Rat plötzlich unwillkürlich und ohne Absprache : „Hoppla Hopp, Hoppla Hopp, Hoppla Hopp“. Edmund Jochem blickt irritiert zurück und muss lachen.

Die Kappensitzung wurde zu einem großen Erfolg, wobei das närrische Publikum sich immer wieder über den neuen Ausruf “Hoppla Hopp” amüsierte und diesen neuen Schlachtruf auch regelmäßig aus voller Überzeugung ausrief.

Es ist späte Nacht. Edmund Jochem und seine Männer stehen müde, aber glücklich an der Theke. „So hott eich mir et vorgestellt“ ,brach es stolz aus dem Senior heraus. „Jo, jo, obwohl de da beinoh de Hals gebroch hoschd“ ,erwiderte Recktenwald. Die Männer beginngen gleichzeitig zu lachen und prosteten sich freundlich zu. „Dat hätt solle so senn, ihr Leit“ ,sagte Jochem. Jetzt hann mir e eichener Derminga Ausruf. Jetzt wäre ma emma Hoppla Hopp rufe. Der do Stolperer hott sich werklech gelohnt.“ “Dat es e guud Idee”, erwiderte Recktenwald.

Diese Geschichte ist auf der Grundlage historischer Ereignisse frei erfunden, wobei es die namentlich erwähnten Personen tatsächlich gegeben hat. Ziel ist es den Lesern und Menschen unseres Heimatortes die Geschichte Dirmingens näher zu bringen und dem Vergessen entgegenzuwirken. So wie in dieser frei erfundenen Geschichte, könnte es sich am Ende tatsächlich zugetragen haben !