Dirmingen – Ein Tag im Jahr 1904
Dirmingen im Jahre 1904. Die Industrialisierung brachte dem damaligen Saargebiet einen enormen Bevölkerungswachstum. Um das Jahr 1900 lebten im Saargebiet etwa 700.000 Menschen. Das Land entstand zu dieser Zeit auf der Grundlage von Kohle und Stahl. Die Saarregion lag damals nicht an der Grenze zu Frankreich. Der deutschsprachige Nordosten Lothringens und die Stadt Metz mit ihrem Umland bildeten zusammen mit dem Elsass das Reichsland Elsass-Lothringen und somit das Grenzgebiet.
Wie aber sah es damals im Jahre 1904 in unserem Dörfchen aus? Dirmingen hatte in diesem Jahr etwa 1560 Einwohner. Die Landwirtschaft verlor mit dem Einzug der Industrialisierung das Alleinstellungsmerkmal. In diesem Jahr waren ca. 200 Männer aus Dirmingen im Bergbau beschäftigt. Im Jahre 1904 existierten in Dirmingen bereits ein Bergmannsverein, zwei Gesangsvereine und der Obst-und Gartenbauverein. Die Hauptstraße durch Dirmingen wurde zu dieser Zeit als sogenannte Kohlenstraße bekannt. Die Infrastruktur unseres Dorfes wurde durch Kohle und Stahl gestärkt. Für viele selbstständige Bauern bot der Bergbau die Möglichkeiten zu eines schrittweisen Übergangs zum Industriearbeiterdaseins. Auf diese Art und Weise entstanden im Saarland die typische Bergmannsbauern. Männer verkleideten sich zur Fastnacht überwiegend als Frauen. Hingegen war der gesellschaftliche Stand von Mädchen und Frauen nicht besonders hoch. Ein Versuch, einen Tag in Dirmingen im Jahre 1904 zu rekonstruieren, sollte naturgemäß scheitern. Schließlich war ich aus natürlichen Gründen selbst nicht dabei. Dennoch habe ich einmal mehr versucht, einen Tag in Dirmingen im Jahre 1904 nachzustellen. Ich werde bei diesem Versuch bestimmt nicht frei von Fehlern gehandelt haben. Dennoch oder “graad se lääds” möchte ich es wagen:
Der 06. März 1904 war ein trockener, wolkenverhangener Sonntag. Jakob Gabler sitzt an diesem Morgen allein vor seinem Glas Bier in seinem Stammlokal Schneider „Kammersch“ und starrt nachdenklich auf die Theke. Als sich die Tür des Gasthauses öffnet, dreht er neugierig seinen Kopf herum. Der Dirminger Arzt Dr. Rössing betritt schmunzelnd das beschauliche Gasthaus und nickt freundlich in die Runde:„Gemorje, ihr Leut“. Die Männer an der Theke heben anerkennend ihren Kopf, wobei längst nicht jeder den Gruß des Arztes erwidert. Allein der alte Wilhelm Guthörl klopft mit seiner rechten Hand auf die Theke und knurrt:„Gemorje Herr Doktor, schon so frieh off da Been?“
Jakob Gabler nimmt schmunzelnd einen tiefen Schluck Bier und bietet Dr. Rössing den Platz neben sich an :„Scheen, dat Sie et geschafft hann, Herr Doktor.” Der Doktor nickt freundlich und fragt: „Wie kann ich euch helfen lieber Jakob?“ Gabler nimmt erneut einen Schluck Bier und fährt sich ein wenig verlegen durch das Gesicht. Nach einem tiefen Atemzug blickt Gabler dem Doktor tief in die Augen und kommt sofort auf den Punkt:„ Herr Doktor, et gedd um die Unterstützung, die Sie uus zugesaat horre. Wie Sie wesse, soll heit Mittach unser neuer Verein gegründet genn und mir senn jo off jed Helf angewies‘“.
Doktor Rössing lächelt, nickt dem Wirt freundlich zu und bestellt ein Bier. Rössing rückt den Stuhl zurecht um dann neugierig zu fragen: „Na, was hann ihr dann vor? Ihr hann euch doch bestemmt schon so euer Gedanke gemacht, orra? Sonschd würd’ ihr wohl net heut schon denne Verein enns Lääwe rufe, orra?“
Gabler nickt und prostet dem Doktor zaghaft zu:„ Die Nobarvereine aus Hüttchweller, Illinge on Landsweller hann gesaat se gäänge uus beim offbau vom Vereins helfe. Ussa Ziel ess et so schnell wie et nur geed e Turnplatz zu baue. Bess dohin kenne mir em Brühl orra em Hap turne.“
Doktor Rössing hört aufmerksam zu und schiebt seinen Stuhl ein wenig näher zu Jakob Gabler:„ Jakob, ich helf‘ euch so gut ihr könnt. Wieviel Leut‘ haschde dann zur Vereinsgründung?“ Jakob Gabler antwortete: „20 junge Männer met viil Herz.“ Der Doktor nickt nachdenklich und legt beruhigend die Hand auf Gabler’s Schulter. Nach einer kurzen Pause nimmt Rössing einen tiefen Schluck vom edlen Gerstensaft und fragt dann:„ Haschde mol die Brauerei gefrooht, Jakob ?“
Gerade als Gabler antworten möchte, fällt ihm Valentin Hell von der anderen Seite der Theke ins Wort::„Eich helfe denne aach, Herr Doktor. Genn Sie sich einen Ruck.“ Valentin Hell war ein großer, etwas kräftiger Mann mit einem gepflegten Schnurrbart. Seit 7 Jahren besitzt der pensionierte Bergmann und Gastronom eine Baumaterialien-. Kunstdünger- und Kohlehandlung. Doktor Rössing nickt dem Unternehmer zustimmend zu und sagt:„ Darum geedd es jo gar net, Valentin .Ich will nur, dass der Verein off feschde Been stedd.”
Jakob Gabler nickt zustimmend und erwidert:„ De Schäfer Johann, helft aach. Herr Doktor, mir hann seid Joohre e haufe junge Leut‘, die sich regelmäßig em sprenge, laafe, klettere iwwe. Zudem hann mir uus vor kurzem e Reck selbschd gebbaut.“ Valentin Hell unterbrach erneut und ergänzte:“ Ganz genau onn dat ganze em Sinn on da Ideale vom gurre alte Turnvadda Jahn on dem Motto:„ Erziehungsarbeit em ganzen Volker ohne Rücksicht auf Beruf on Stand.“
Doktor Rössing muss unwillkürlich schmunzeln. Er hebt sein Glas Bier erneut zum Prosit und sagte:„ Ihr liewe Leut‘, nadierlich stehn ich zu meinem Wort. Die meischd Ärwend werdd et senn, Geräte on Material bei se schaffe. Dodevor well ich mich mit meine Beziehunge geere ensetze“ Die Männer nicken sich zustimmend zu und nehmen erneut einen letzten Schluck Bier. Valentin Hell legt seinen Kopf auf seine große Hand, fährt sich durchs Haar und fragt:„ Noch ein Bier die Herren?“ Die Männer antworteten durch ein schweigendes Kopfnicken.“
Jakob Gabler ergreift als erstes wieder das Wort:„ Wichtich es die Jugendärwend on die Teilnahme an denne Gauveranstaltungen. Wenn ma well, kann ma alles schaffe. Wesse da noch em letzschde Joahr? Do hott de Müllersch Fritz met seine Faasebooze sei Verein „Dr moss senn“ ens Lääwe geruf’ on sogar e eichenes Faasendbuch rausbroong. Ma muss nur welle.“
Valentin Hell blickt seine beiden Gesprächspartner nachdenklich an und erwidert:„ Es ist wichtich das mir uus organisiere“. Von der anderen Seite der Theke mischt sich George Bruch lauthals in das Gespräch der drei Männer ein:„ Dat Turne muss weirra vaterländisch gepflegt genn. Dat senn mir uussem Heimatland schuldich. Et komme emma mee Spiele aus England do riwwa bei uus. Off eemol welle se dohei noch Fußball spiille. Geh ma fott“.
Die drei Männer blicken kopfschüttelnd nach unten. Jakob Gabler fährt sich durchs Haar und spricht beruhigend auf George Bruch ein:„ Georg, bleib ruhig. Geh, mach Georg noch e Bier uff mich.“ Kopfschüttelnd wendet sich Gabler wieder seinen beiden Gesprächspartnern zu und fährt fort: „Wir messe uus breit offstelle. Net nur das Turne sondern ach die Geselligkeit soll e Roll spiile.“ Valentin Hell räuspert sich und zeigt auf den Stammtisch: „Heut Mittach‘ geht’s los! Ich glaab mir senn uus schon mol eenich, orra?” Die Männer nicken sich erneut zu.
Es ist 11:00 Uhr. Die Tür öffnet sich und eine Menge von Männern betritt den Gastraum. George Bruch erhebt sofort vorwurfsvoll das Wort:„ On, ihr Scheinheiliche, es die Kerch aus? Wat hott euch dann de Pfaffe Langensiepen verzappt ?” Als die fünf Männer entrüstet zu dem sichtlich angetrunken Bruch blicken öffnet sich erneut die Tür zum Gastraum. Der evangelische Pfarrer Langensiepen öffnet die Tür und tritt herein und grüßt freundlich in die Runde.
Doktor Rössing zieht den Stuhl neben sich nach hinten und bietet dem Gottesmann einen Platz neben sich an. Der Pfarrer nimmt lächelnd und gut gelaunt neben den drei Männern Platz. Valentin Hell ergreift zuerst das Wort :„Herr Parre, mir wärre heit Mittach e neuer Verein gründe, wenn’ se wolle, kenne se mitmache. Pfarrer Langesiepen grinst und antwortet freundlich:„ Mache ihr das mol scheen alleen. Ich hab genuch mit meiner Gemen’ zu tun. Demnächst well ich e Frauehilf on e Kerchechor grünnde. Dat es äwernd genuch.” Sein Blick wandert auf die andere Seite der Theke zu George Bruch:„Was es met dir mein Sohn, welschd de em Chor mitsenge ? Dat gäng dir nix schade.” Die Leute im Gastraum beginnen unwillkürlich zu lachen. George Bruch hebt entrüstet seinen Kopf und bläst die Backen auf. Pfarrer Langensiepen bestellt eine runde Bier und hebt sein Glas zum Prosit.
Es ist 16:00 Uhr. 20 Männer aus Dirmingen sitzen am großen Tisch des Gasthauses „Schneider- Kammersch“. Wilhelm Heintz ergriff als erstes das Wort:„ Jakob, dau musschd dat mache. Dau moschd dem Verein vorsitze.“ Jakob Guthörl und Johann Wagner stimmen mit einem grummelnden Kopfnicken dem Vorschlag zu. Jakob Gabler ergreift ausweichend das Wort:„ Ihr Leut, mir messe uus direkt no da Gründung dem Bliesgau on der deutschen Turnerschaft anschließe. Seid e paar Joahr gebbt et jo denne Arbeiterturnerbund. Außerdem wolle emma mee Frauleit en e Turnverein entrete. Wie geehn mir dodemett um?“
Valentin Wagner ergreift das Wort:„ Loss mol jetzt eena Schritt vor dem annere mache. Jetzt gründe mir se allererschd mol denne Verein. Jakob, machschd dau de Vorsitzende?“ Der Angesprochene fährt sich durch’s Gesicht und erwidert dann:„ Ey, wenn sonschd keena maan. Awer, wie solle ma dann iwwerhaupt heische?“
„Ganz eefach“, antwortet Jakob Guthörl „mir bleiwe bei dem erschde Name, der uus sellemols engefall es: TV 04 Dirmingen.” Die 20 Männer klopfen zustimmend auf den Tisch und nickten sich aufmunternd zu. „Ey gut“, antwortet Jakob Gabler,„ schreiten wir zur Wahl.
Jakob Gabler wird einstimmig zum ersten Vorsitzenden des neu gegründeten Vereins gewählt. Gemäß den Idealen von Turnvater Jahn setzt sich der Verein folgende Ziele: Turnen zur körperlichen Ertüchtigung sowie Geselligkeit mit Singen und Theaterspielen. Neben Turnen und Leichtathletik wird Schlagball, Faustball und Schleuderball gespielt.
Nach nur 45 Minuten war der TV 04 Dirmingen aus der Wiege gehoben. Als alle anderen bereits ihren Platz verlassen haben und zur Theke gehen, bleibt Jakob Gabler sitzen und legt abermals seinen Kopf in beide Hände. Gabler hat ein gutes Gefühl und weiß, dass er das Richtige gemacht hat. Genüsslich nippt Gabler an seinem Glas Bier und legt sich zurück in seinen Stuhl.
Doktor Rössing reißt den neuen Vorsitzenden aus seinem Tagtraum:“ Was es los, Jakob?“ Der Vorsitzende hebt seinen Kopf und erwidert:„ Herr Doktor, itze brauche ma e Turnplätz.”
Die beiden Männer schauen sich in die Augen und müssen unwillkürlich lachen.
Diese Geschichte ist auf der Grundlage historischer Ereignisse frei erfunden, wobei es die namentlich erwähnten Personen tatsächlich gegeben hat. Ziel ist es den Lesern und Menschen unseres Heimatortes die Geschichte Dirmingens näher zu bringen und dem Vergessen entgegenzuwirken. So wie in dieser frei erfundenen Geschichte, könnte es sich am Ende tatsächlich zugetragen haben !