Die Hütte im Brühlpark – Geschichte der Nachkriegsenkel

Die 80er Jahre waren geprägt von einem neoliberalen Weltbild und Reformen. Der „Kalte Krieg“ zog ganz Europa in seinen Bann und irgendwie wurden wir dadurch allesamt „links-Grün“ orientiert. Jeder wollte raus, weg von dem konservativen Denken und dem erhobenen Zeigefinger der Eltern und Großeltern. Wir waren die Nachkriegsenkel, wir waren diejenigen, die es laut unserer Eltern „einmal besser haben sollten“. Aus dieser Haltung entstand eine gewisse Rebellion und die Sucht nach etwas ganz Neuem. Wir trugen Parker mit „No Future“ oder die neusten „Adidas Allround“ Schuhe. Etwas neues musste her, etwas Einzigartiges und Aufregendes. Das begann bei der Kleidung und endete in einem neuen Musikstil. Zauberwürfel, der erste CD-Player, die Frage Popper oder Punk und der Kampf gegen die Atommacht waren allgegenwärtig. Die Mode der 80er-Jahre war laut, rebellisch und vor allem ausdrucksstark. Schulterpolster, Neonfarben, voluminöse Silhouetten und glänzendes Material wie Lack und Metallic prägten das Jahrzehnt. Die Menschen in den 80er wollten raus aus dem Nachkriegsmief hin in eine neue Freiheit.

Die 80er wirbelten reichlich medialen und politischen Staub auf. Der Widerstand gegen die Atomkraft wuchs spätestens nach Tschernobyl in das Unermessliche. In Dirmingen ging es etwas langsamer und ruhiger zu. Die Wenigsten wollten jedoch im Dorf bleiben. Es herrschte eine allgegenwärtige Sucht nach der großen weiten Welt. Zumindest die Stadt sollte es sein. Es war die Zeit der Discos und großen Clubs. Drogen waren allgegenwärtig und wurden genauso wie Alkohol stark konsumiert. Man wollte raus aus dem Elternhaus. Der Brühlpark bekam seinen zweifelhaften Ruf weg und wurde jahrelang als Drogenumschlagplatz genutzt. Nicht umsonst sagte der damalige Kult-Star Falco einmal: „Wer sich an die 80er erinnern kann, hat sie nicht erlebt“.

Die 80-ger prägten einen ganz Besondern Zeitgeist. Es war ein Jahrzehnt voller kultureller und musikalischer Meilensteine. Die Musik dieser Zeit ist legendär und hat bis heute nichts von ihrem Zauber verloren. Sie war laut, schrill, bunt, mitreißend und voller Emotionen. Als Nachkriegsenkel wurden wir mit Zwängen und Ängsten erzogen. Die Musik diente als Filter und verschaffte Luft zum atmen. Mein Bruder und ich genossen eine liebevolle, aber auch harte Kinderstube. Unsere Eltern, sogenannte Nachkriegskinder, hatten keine leichte Kinderzeit. Die Strenge und das konservative Verhalten während ihrer Erziehung wurde bei den Nachkriegsenkeln so empfunden, als ob ihnen ihr Glück nicht gegönnt würde. Aus „du sollst es mal besser haben“ wurde irgendwann „Du hast so viel mehr als wir“ oder „Wir meinten es doch nur gut.“ Wer mit solchen Sätzen aufwächst, fühlt sich schnell irgendwann als Verräter an den unglücklichen Eltern. Die Nachkriegskinder haben den Jüngeren nicht nur ihr Trauma vererbt, sondern auch deren Folgen. Seltsamerweise war das bei meinen beiden Großmüttern ganz anders. Meine beiden Omas schwiegen den Krieg tot und wollten uns vor diesen Erinnerungen bewahren.

Die 80-ger Jahre. Wir verbrachten unsere Zeit auf dem Sportplatz oder an der kleinen Holzhütte im Brühlpark. Dort pulsierte das Dorfleben. Die neuesten Dorfgespräche und die heißesten Gerüchte wurden dort diskutiert. Bis zum „Prima Markt“ und zu den beiden Imbissbuden war es nur ein Sprung weit. Wir spielten Fußball, Minigolf oder hörten stundenlang Musik. Das erste Bier, die erste Liebe, der erste Kuss. Alles wurde damals mit dem Brühlpark in Verbindung gebracht. Am Wochenende trafen wir uns in „Charlys Club“ oder pilgerten von einer Kneipe in die Nächste. Ich bin mir längst nicht mehr sicher, ob der Spruch über die „Jugend von heute“ immer noch seine Berechtigung hat. Waren wir damals nicht viel schlimmer unterwegs? Na gut, es gab viel weniger Sachbeschädigung, Vandalismus oder Randale. Wir waren mit etwas mehr Respekt unterwegs. Eine Eigenschaft die heute längst verloren scheint. Der Umgang untereinander war gradliniger und fairer. Wenn man ein Problem mit jemandem hatte, wurde das ausdiskutiert. Wenn es sein musste, gab es auch mal was auf die Nase. Die Auseinandersetzung endete jedoch in jedem Fall, wenn einer der beiden Rivalen am Boden lag. Im besten Fall fanden sich die beiden Kontrahenten in „Charlys Club“ wieder, um gemeinsam die Sache bei einem Bier zu begraben. Der Brühlpark bot etwas Neues ! Die Kinderzeit mit ihren Wäldern, Fluren und Straßen war vorüber. Die Jugendzeit lockte uns in das Ortszentrum. Dort waren wir Mittendrin. Über das Dorf lag dieser Geruch von Biermaische und im Sommer verbrannten wir uns die Füße am heißen Asphalt.

Zu Beginn der 80er Jahre bewegte sich etwas in Dirmingen. Im Jahre 1981 wurde im Brühlpark eine Minigolfanlage errichtet. Ein Jahr zuvor am 18.03.1980 eröffnete die „Primo-Kauf HUS Handels-Union Sudwest GmbH, Beteiligungsgesellschaft & Co“ aus Holland einen Lebensmitteleinzelhandel in der Illingerstraße in Dirmingen. Die damalige Neueröffnung des „Prima Marktes“ war für die Menschen in unserem Dorf eine großartige Sache. Der Weg führte weg von den guten alten Kolonialwarenladen hin zu den ersten großen Discountern. Der gute alte „Prima Markt“ verankerte sich schnell im Volksmund. Ich kann mich noch gut an die damalige Eröffnung erinnern. Wir waren überwältigt von der großen Produktauswahl und dem völlig neuen Verkaufsangebot. Wir alle brauchten den „heißen Draht“ in die große weite Welt oder vielmehr zu der ersten großen Liebe. Obwohl in den 80er bereits jeder Haushalt über ein Telefon verfügte, konnte man dort in den eigenen vier Wänden niemals zu richtig frei telefonieren. Für ein paar Groschen konnte man ungeniert seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Die Dirminger Telefonzelle war genauso Kult, wie unsere Imbissbuden.

In Dirmingen gab es in den 80er Jahren noch genügend Kneipen und Geschäfte. Meistens stürzten wir nach der Schule zum „Kraße“, dem Süßwaren Händler unseres Vertrauens. Der kleine, feine Süßwarenladen von Hermann Kraß war Kult. Bei „Kraß’e“ gab es alles, was das Kinderherz begehrte. Schleckmuscheln, Esspapier, Nappo, Knuspermünzen, Ahoi-Brause, Mamba, PEZ-Bons und Gummibären in den verschiedensten Sorten. Der Geschäftsinhaber Hermann Kraß war ein kleiner freundlicher und sehr zuvorkommender Mann, der sich sehr viel Zeit für seine kleinen Kunden nahm. Der Bau der ersten Discounter, also auch des „Prima Marktes“, schadete naturgemäß der Entwicklung des kleinen Süßwarenladens.

Das alles wurde ausgiebig im Brühlpark thematisiert. Im Park traf man sich jeden Mittag zum gemeinsamen Abhängen. Über Nacht schlug das neuste Dorfgespräch im Park auf: Wer ist mit wem zusammen und warum hat derjenige Ausgangsperre? Der Bau einer modernen Minigolfanlage sorgte in Dirmingen zunächst für Begeisterung. Die Anlage wurde auf Initiative des Dirminger Vereinsrings gebaut. Die Minigolfanlage sollte das Ansehen des Brühlparks weiter aufwerten. Wer kann schon behaupten, einen solchen Platz in seiner Dorfmitte zu haben. Die Minigolfanlage bestand aus 18 Bahnen die jeweils 12 m lang und 1,25 m breit waren. Ziel des Spiels ist es, den Ball mit Hilfe des Schlägers mit möglichst wenigen Schlägen in das Loch zu bewegen. Neben der Minigolfanlage wurde eine Holzhütte für den laufenden Geschäftsbetrieb erbaut. Die Holzhütte wurde genau dort erbaut, wo sich einst das Kassenhäuschen des hiesigen Sportplatzes im Brühl befand. Im Laufe der Jahre gab es immer wieder Beschwerden wegen unzureichender Pflege und mangelhafter Unterhaltung der Anlage. Auf Initiative des Heimat- und Verkehrsvereins Dirmingen schloss die Gemeinde am 21.07.1986 einen Werkvertrag mit einem Dirminger Bürger ab, der die Anlage regelmäßig Mähen und Pflegen sollte. Die ersten Pächter richteten regelmäßig Minigolfturnier aus. In der Hütte wurden Kaltgetränke, Süßigkeiten oder kleinere herzhafte Speisen angeboten. Mit kleinem Geld bekam man ausreichend Alkohol. Erster Rausch und erster Kontakt mit dem anderen Geschlecht.

Im Laufe der Jahre wechselten Licht und Schatten. Der Brühlpark, in der Dirminger Ortsmitte, entwickelte sich vom Vorzeigemodell zum Sorgenkind. Immer wieder versuchte man den Park mit neuen Maßnahmen auf Vordermann zu bringen. Es wurden Kinderspielplätze angelegt, neuer Rasen und Blumen gepflanzt, Bänke und Lampen aufgestellt. Der Park erhielt ein großartiges natürliches Ambiente. In den 1980er Jahre fanden im Park unterschiedliche festliche Aktivitäten wie das „Dirminger Volksfest“, ein Westernfest oder das „Parkfest“ statt. Auf der anderen Seite bietet der Park bis heute fiesen Drogendealern und Gaunern einen Rückzugsort.

Immer wieder der Park! Die 80er bildeten die Hochzeit des Brühlparks. Der Park wurde täglich von einer Vielzahl von Menschen aller Generationen genutzt. Irgendwann war der Zauber vorbei! War er das wirklich? Irgendwie zieht der Park noch heute die Menschen unseres Dorfes in seinen Bann. Gegen Ende der 1980ger Jahre wurde die Minigolfanlage geschlossen und später entfernt. Von der alten Holzhütte unserer Kinder und Jugendzeit ist nichts mehr zu sehen.

Wenn man die alte Holzbrücke über die Ill zum Brühlpark nimmt, muss man am Ende der Brücke scharf nach rechts schauen. Dort, wo heute Hecken blühen, und Wildwuchs herrscht, stand einst eine kleine, schlichte Holzhütte. Es war die Hütte der Nachkriegsenkeln unseres Heimatortes. Die 80-ger endeten mit einem Jahrhundertereignis: Der Mauerfall!

Spätestens ab diesem Zeitpunkt gehörte die alte Welt der Geschichte an. Spätestens in diesem Moment wurde die Sehnsucht nach etwas neuem radikalen zur harten Realität. Die 80er waren geprägt von Angst und Hoffnung. Die Nachkriegsenkel sind mittlerweile in die Jahre gekommen. Zurückblickend stellt man sich die Frage, ob auch wir bei der Erziehung unserer Kinder wirklich alles richtig gemacht haben. Wenn wir uns die heutige Welt anschauen, könnte man schnell den Eindruck gewinnen, dass auch wir vieles falsch gemacht haben.  

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Ort mit vielen schönen Erinnerungen. Der Ort unserer Jugendzeit. Heimat hat immer etwas mit Sprache, Orten, Stellen oder Gebäuden zu tun, in denen wir gelernt haben zu fallen, aufzustehen und zu gehen. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass es in unserem Land nie wieder Nachkriegskinder oder Nachkriegsenkel geben darf.