40 Jahre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft lehrten mich Haltung und Solidarität

1984: Helmut Kohl ist Bundeskanzler in der Bundesrepublik Deutschland. Richard von Weizsäcker trat diesem Jahr sein Amt als Bundespräsident an und Deutschland und Frankreich setzen ein gemeinsames Symbol der Versöhnung. Die Grünen setzen beim Thema Waldsterben auf eine starke Umweltpolitik und Otto Graf Lambsdorff muss wegen der Flick-Affäre von seinem Amt als Wirtschaftsminister zurücktreten. In der DDR war Erich Honecker der mächtigste Politiker. 1984 schritt die Technologie in Deutschland mit aller Macht voran. Die ersten Computer wurden vermarktet und eroberten auch die Arbeitswelt. Das Privatfernsehen startete mit Sat.1 und RTL seine Erfolgsgeschichte. Zahlreiche Länder des Ostblocks boykottierten die Olympischen Sommerspiele in Los Angeles. In Äthiopien kam es 1984/85 zu einer schlimmsten Hungersnöten. In Indien wurde die Ministerpräsidentin Indira Gandhi durch extremistische Sikhs ermordet. Ronald Reagan gewann die Präsidentschaftswahlen in den USA und wurde somit erneut Präsident. Das Lied „Self Control“ von Laura Branigan wurde zum Hit des Jahres. Deutscher Fußballmeister wurde der VFB Stuttgart.
Manche Dinge bekommt man in die Wiege gelegt. Im Jahre 1984 unterschrieb ich nicht nur meinen ersten Arbeitsvertrag bei den Saarbergwerken AG, sondern auch meine Eintrittserklärung bei der zuständigen Gewerkschaft IGBCE und in der SPD. Mein Werdegang war familiär bedingt vorgeschrieben. Schon mein Ur-Großvater und mein Großvater waren Bergleute. Ebenso war mein Vater „Unter Tage“ tätig. Mein Großvater väterlicherseits und mein Vater waren bekennende Sozialdemokraten. In den 1980-er Jahren galt die SPD noch als reine Arbeiter- und Friedenspartei. Viele Familienmitglieder waren der SPD verbunden und übernahmen schon früh mit ihrer Mitgliedschaft Verantwortung. In den 70-er und 80-er Jahren pflegte die SPD traditionell eine enge Verbindung zu den Gewerkschaften. Eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft war damals völlig normal und eigentlich eine logische Konsequenz. Ich unterschreib die Eintrittserklärung ohne mir dabei Gedanken zu machen. Als Bergmann war die Gewerkschaft IGBCE für mich verantwortlich.


Warum braucht man eine Gewerkschaft? Gewerkschaften unterstützen und beraten Betriebs- und Personalräte, damit die Interessen der Arbeitnehmer/innen gegenüber dem Arbeitgeber vertreten werden. Durch die betriebliche Mitbestimmung können Beschäftigte ihre Arbeitszeit oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mitgestalten. Die Mitglieder erhalten kostenlose Rechtsberatung und kostenloser Rechtsschutz. Gewerkschaften führen Tarifverhandlungen und rufen notfalls auch zu einem Streik auf. Im Wesentlichen leisten die Gewerkschaften jedoch einen viel größeren Beitrag: Solidarität!
Bis zum Jahre 2001 war ich Mitglied in der IGBCE und übernahm auch für einige Jahre den Vorsitz in der IGBCE Ortsgruppe Dirmingen/ Berschweiler. Diese lehrreiche Zeit hat mich sehr geprägt und hat mir genauso wie meine Zeit „Unter Tage“ vieles mitgegeben. Schon damals war jedoch ein besorgniserregender Trend weg von den Gewerkschaften zu erkennen. Immer mehr Arbeitnehmer/innen verzichteten auf eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Ich persönlich hielt an meiner Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft fest und wechselte nicht nur den Arbeitgeber, sondern auch die zuständige Gewerkschaft. Im Jahre 2001 wurde ich Mitglied in der NGG. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist die älteste Gewerkschaft Deutschlands. Eine ihrer Vorläuferorganisationen, der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein, wurde bereits 1865 in Leipzig gegründet. Die NGG hat heute 187.679 Mitglieder und gehört zu den 5 größten Gewerkschaften unseres Landes.

Die Zigarrenproduktion erfolgte zu dieser Zeit größtenteils in Heim- und Handarbeit. In kleinen Arbeitsräumen, die meistens auch als Schlaf- und Wohnraum dienten, arbeiteten Eltern, Kinder und ein paar Gehilfen unter denkbar schlechten Bedingungen. Die Folgen waren überlange Arbeitszeiten, keinerlei Absicherung gegen Krankheit und Unfälle, Kinderarbeit und Hungersnot. Der erste „Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein“ versuchte sich besser gegen ausbeuterische Fabrikanten und die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen zur wehren. Während der Arbeit wurden die Zigarrenmacher nicht durch die Fabrikanten kontrolliert. Sie konnten während ihrer leisen, mechanischen Arbeit ungehindert miteinander reden und debattieren. Vielerorts bestimmten die Arbeiter einen sogenannten „Vorleser“, der die Arbeitenden durch das Vorlesen aus Romanen, politischen Schriften und sozialdemokratischen Zeitungen unterhielt und informierte. Viele Zigarrenmacher wurden so zu politisch interessierten und gut informierten Arbeitern. In Erinnerung daran ist „der Vorleser“ heute das offizielle Symbol der Gewerkschaft NGG.
Durch Bismarcks Sozialistengesetz von 1878 wurden die wachsenden Bestrebungen nach mehr Mitbestimmung und besseren Arbeitsbedingungen durch die Gewerkschaften ausgebremst. Die Sozialdemokratische Partei und die ersten Gewerkschaften wurden verboten. Unter dem Deckmantel sogenannter. „Reiseuntersützungsvereine“ ging die Arbeit der Gewerkschaften jedoch weiter. Im Jahre 1890 fiel das Sozialistengesetz und wurde für Nichtig erklärt. Der Druck auf die Arbeitnehmerschaften und die Gewerkschaften ging jedoch weiter. Dennoch konnten Gewerkschaften endlich wieder öffentlich agieren. Die beiden Weltkriege schwächten die Bemühungen der Gewerkschaften in Deutschland. Diese Schwäche der Gewerkschaften, vor allem zum Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1923, wurde von den Arbeitgebern genutzt. Vielerorts wurden Tarifverträge gekündigt und die tägliche Arbeitszeit wieder erhöht. Auch von Seiten der Gewerkschaften blieben wirksame Maßnahmen gegen den Aufstieg Adolf Hitler’s Nationalsozialistischer Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) aus. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 wurden die Gewerkschaften zunehmend unter Druck gesetzt und sehr bald, am 2. Mai 1933, verboten. Einzig die SPD stellt sich am 23. März 1933 mutig gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis. Die Gewerkschaften und auch die Sozialdemokraten waren fortan zur Untergrunds Arbeit verdammt.

Nach dem Krieg wurde der gemeinschaftliche Einsatz gegen das nationalsozialistische Regime zu den Grundlagen für die Schaffung von Einheitsgewerkschaften. Mit dem Bundesrahmentarifvertrag in der Brauindustrie trat am 1. Januar 1974 der erste einheitliche Einkommenstarifvertrag in Deutschland überhaupt in Kraft. Erfolge in der Vorruhestandsregelungen, bei der Rente, der Arbeitszeit und beim Mindestlohn gehören zur Geschichte der Gewerkschaften. Die NGG trägt Verantwortung für die Arbeitnehmer/innen in der Lebensmittelbranche. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Dienstleistung haben es bis heute nicht einfach. Dennoch sind viele Firmen und Unternehmen immer noch nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Ernährungsindustrie sind vielerorts von Dumpinglöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen betroffen.
Gewerkschaften benötigen Betriebsräte. Weit über 20 Jahre war ich Mitglied eines Betriebsrates. Viel Ärger – wenig Lohn und Dank! Gerade im Mittelstand und in der Dienstleistung fällt es oftmals schwer Solidarität zu erwirken und zu demonstrieren. Trotzdem ist die Arbeit der Betriebsräte immer noch sehr wertvoll und unverzichtbar. Der zu beschreitender Weg ist in dieser Branche jedoch etwas länger und härter als anderswo. Auch in unseren Betriebsräten geht es allzu oft um Selbstsicherung, Macht Spielereien und das Erklimmen einer Karriereleiter. Trotz alledem gehören Gewerkschaften und Betriebsräte zu den wichtigsten Errungenschaften der Industrialisierung. Wo wären wir heute ohne die Verdienste der Gewerkschaften?
Am Freitag, 21. März wurde ich im Bildungszentrum Kirkel für meine 41- jährige Mitgliedschaft in den Gewerkschaften IGBCE und der NNG ausgezeichnet und geehrt. Weit über die Hälfte meines Lebens bin ich nun gewerkschaftlich organisiert und Mitglied eine der größten Gewerkschaft unseres Landes. Ganz oft habe ich gezweifelt und wurde von Enttäuschungen geplagt. Genauso oft war ich jedoch von der Solidarität und den Errungenschaften der Gewerkschaften begeistert. Ich erinnre mich an die Bergarbeiterdemonstrationen in den 1980-er Jahre oder auch die erfolgreiche Umstrukturierung unserer Firma von einem Verbunds Segment hinweg zu einem eigenständigen und erfolgreichen Unternehmen. Hinzu kamen viele gewerkschaftliche Errungenschaften mit guten Tarifabschlüssen. Während viele Mitarbeiter/innen diese gewerkschaftlichen Errungenschaften auch als Nichtmitglied genossen und als gegeben hinnahmen, wollte ich immer ein Teil dieser Bewegung sein. Ich möchte mich bei meiner Gewerkschaft ganz herzlich bedanken. Vielen Dank für den schönen Abend, die Ehrung und das schwelgen in Erinnerungen. Ich habe viele gute Menschen kennengelernt und durfte so einiges für mein Leben mitnehmen. Unter anderem habe ich mit Wolfgang Winkler einen sehr sympathischen und interessanten Musiker kennengelernt. Wolfgang Winkler versteht es in seinen Liedern Geschichte und Musik auf unvergleichbare Art zu vereinen. Sein Lied „Der Vorleser“, der Symbolfigur der NGG, stellt das eindrucksvoll unter Beweis. Winkler beschreibt in seinem Lied die Stellung des Vorlesers in der NGG. Informationen findet ihr unter www.winklermusik.de.


Zeit zur Veränderung. Wir schreiben das Jahr 2025 und ich werde mich erneut beruflich verändern. Ein Gewerkschaftsaustritt kommt für mich jedoch nicht in Frage. Vielmehr strebe ich erneut einen Wechsel in eine Gewerkschaft an, die in meinem neuen beruflichen Umfeld Verantwortung trägt. Ich zieh das jetzt durch !
Meine Mitgliedschaften in der Gewerkschaft und der SPD haben mich oft zweifeln lassen. Ich bin auch heute längst nicht mit allen Entscheidungen meiner Partei und den Gewerkschaften in Deutschland einverstanden. Das muss ich auch nicht! Auch das ist Demokratie und ein Teil unserer Freiheit. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es ohne den Einsatz der demokratischen Parteien und Gewerkschaften, den Menschen in diesem Land schlechter gehen würde. Wenn mich meine Mitgliedschaft in den Gewerkschaften und der SPD eines gelehrt hat, dann ist das: Solidarität und Haltung! Mein Rat: Schwimmt ruhig mal gegen den Strom und erhebt deine Stimme!