Aufbruchsstimmung oder Untergangssymphonie – Kirche muss und wird sich neu erfinden !

„Zieh dich an, dein Vater ist gleich fertig“ fauchte mich meine Mutter an. „Es ist Zeit und ihr geht immer auf den letzten Drücker“

So stand ich da mit meiner Cordhose und dem Rollkragenpullover und harte den Dingen, die da kommen. Irgendwann kam mein Vater aus dem Bad, sprang in seinen Mantel und nahm mich an der Hand: „Komm jetzt, es ist Zeit“. Eilig zog mich mein Vater durch unsere Straßen vorbei an den Fenstern und Türen unseres Dorfes. Ich ging gerne mit ihm Sonntagsmorgens in die Kirche. Obwohl ich mich während des Gottesdienstes immer langweilte, wollte ich meinen Vater zum Gottesdienst begleiten. Mein Bruder konnte das nie verstehen und war froh, wenn er zuhause bleiben durfte. Den eigentlichen Gottesdienst hab ich als Kind nie verstanden. Die Predigt viel zu lang und die Lieder viel zu schwierig. Das änderte sich erst mit meiner Teilnahme am Kindergottesdienst.

Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit; brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann. Erbarm dich, Herr. (Evangelisches Gesangbuch 262)

Mit schnellen Schritten ging es durch das Dorf in Richtung Kirche. Endlich angekommen liefen wir am Haupteingang der Kirche vorbei in Richtung Empore. Dort saßen immer die Männer der Gemeinde. Mit Anzug und Schlips einbalsamiert in ihre Gedanken suchten sie eilig im Gesangsbuch nach den Liedern für den Gottesdienst. Keiner redete oder lächelte. Kirche, so schien mir, war eine ernste Sache. Der liebe Gott hat bestimmt keinen Sinn für Humor, dachte ich mir. Damals war der Gottesdienst immer gut besucht. Mein Vater zerrte mich vorbei an den Knien der Männer und suchte uns einen guten Platz aus. „Setz dich hin und halte Ruhe“ herrschte mein alter Herr mich an. Durch das Geländer blickte ich nach unten in den Altarraum. Wo war der Pfarrer? Alles war still und hochkonzentriert. Keiner störte die Ruhe und jeder versuchte einen Ton zu vermeiden. Dann plötzlich sah ich sie, dort an den Seiten des Altarraums saßen Sie und bereiteten sich auf den Gottesdienst vor. Ältere Männer, nur Männer, mit ernstem Blick und wachen Augen. Welche Aufgabe haben diese Männer und warum dürfen Sie in Nähe des Altars sitzen. Mein Vater antwortete: „Das sind die Presbyter, und jetzt halt Ruhe“.

Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit; mache deinen Ruhm bekannt überall im ganzen Land. Erbarm dich, Herr.(Evangelisches Gesangbuch 262)

Die Presbyter. Viele Jahre war mir dieses Ehrenamt suspekt. Ich stellte mir die Frage, welche Aufgaben ein Presbyterium hat und warum man ein solches braucht. Heute weiß ich, dass ein Presbyterium eine Kirchengemeinde leitet. Es entscheidet, in welche Richtung sich die Gemeinde entwickelt. Dazu trifft sich das Presbyterium regelmäßig, um Beschlüsse zu fassen. Konkret geht es dabei um Veranstaltungen, Gottesdienste oder auch den Haushalt der Gemeinde.  Das Presbyterium trägt die Mitverantwortung für die Seelsorge und die Gottes­dienst­gestaltung und ist gemeinsam mit den ehrenamtlich und beruflich Mitarbeitenden für das Gemeindeleben verantwortlich. Presbyterinnen und Presbyter werden alle 4 Jahre von der Gemeinde gewählt und in einem besonderen Gottesdienst in ihr Amt eingeführt. Kirche bedeutet eben auch Verwaltungsarbeit.

Schaue die Zertrennung an, der kein Mensch sonst wehren kann; sammle, großer Menschenhirt, alles, was sich hat verirrt. Erbarm dich, Herr. (Evangelisches Gesangbuch 262)

Heute, über 40 Jahre später, sieht das Ganze natürlich anders aus. Längst weiß ich bescheid und kenne die Arbeit eines Presbyteriums. Seit 2016 bin ich Mitglied im Presbyterium unserer Kirchengemeinde. Ich muss gestehen, dass diese ehrenamtliche Aufgabe zu meinen schwersten gehört. Eine Kirchengemeinde mit zu leiten und gestalten ist alles andere als einfach. Die Aufgaben sind vielfältig und gerade in unserer Zeit nicht leicht umsetzbar. Mein Amt, im Presbyterium unserer Gemeinde, hat mir schon viele schlaflose Nächte bereitet. Ganz oft fühlt man sich überfordert und allein gelassen. Viel zu oft suchen wir wochenlang nach Antworten auf die Fragen unserer Zeit: Wie erhalten wir unsere Kirchengemeinde? Wie sanieren wir unsere Gebäude? Wie begeistern wir junge Menschen für unsere Sache? Wie halten wir den Abwärtstrend der Kirche auf und wer zeigt uns den Weg? Fragen über Fragen.

Tu der Völker Türen auf; deines Himmelreiches Lauf hemme keine List noch Macht. Schaffe Licht in dunkler Nacht. Erbarm dich, Herr. (Evangelisches Gesangbuch 262)

Heute ist mir klar, dass ein ehrenamtliches Presbyterium solche Fragen niemals alleine beantworten kann. Beiden Kirchen geht es nicht gut. Die Welt hat sich verändert und wir stehen vor der Frage: Quo Vadis Kirche. Manchmal frage ich mich: braucht die Welt eigentlich noch eine Kirche !? Wie kann sich unsere Kirche retten? Ist unsere Kirche überhaupt noch zu retten ? Manchmal muss es weh tun, bevor es gut wird. Ich glaube, genau in diesem Stadium einer bevorstehenden Transformation befinden sich beide Kirchen im Moment. Die Lage ist ernst, aber nicht unbedingt ausweglos. Ein Umdenken ist dringend von Nöten. Die Kirchen befinden sich in einem Strukturwandel und werden bis zum Jahr 2060 die Hälfte ihrer Mitglieder und Gelder verlieren. Ein Land schafft seine christliche Identität ab und stellt die Weichen auf Wechsel. Auf diese Tatsache heißt es Antworten zu finden.

Gib den Boten Kraft und Mut, Glaubenshoffnung, Liebesglut, lass viel Früchte deiner Gnad folgen ihrer Tränensaat. Erbarm dich, Herr. (Evangelisches Gesangbuch 262)

Aktuell arbeiten beide Kirchen an ihrer Zukunft. Dabei werden die Presbyterien oder auch Pfarrgemeinderäte ganz oft mit ihren Sorgen, Ängsten und Nöten alleine gelassen. Wenn es um die eigene Verwaltung geht, verstehen beide großen Kirchen keinen Spaß. Dabei sind gerade Presbyterien oder Verwaltungsräte ein Spielball des großen Ganzen. Fakt ist: es muss und wird sich etwas ändern ! Wie sollen die evangelische und auch die katholische Kirche auf schwindende Mitgliederzahlen und ansteigende Kirchenaustritte reagieren? Ich glaube, dass unsere Kirche sich neu erfinden muss. Mit der Haltung der vergangenen Jahre ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Der Mitgliederschwund ist erschreckend und hat längst noch nicht sein Ende gefunden. Bei allem was uns bevorsteht, sollten wir bemüht sein die Kirche im Dorf zu lassen. Dabei meine ich dies genau so, wie ich es schreibe. Wenn die Dorfkirchen schließen geht nicht nur eine wichtige soziale Anlaufstelle, sondern auch ein Stück Dorfidentität verloren. Auch unsere beiden in Dirmingen vorhandenen Kirchengemeinden stehen vor so mancher Aufgabe.

Lass uns deine Herrlichkeit ferner sehn in dieser Zeit und mit unsrer kleinen Kraft üben gute Ritterschaft. Erbarm dich, Herr.(Evangelisches Gesangbuch 262)

Bald ist Weihnachten. Gerade zu den hohen Feiertagen erwarten die Menschen von ihrer Kirche gewisse Leistungen. Die Gottesdienste sollen schön, anrührend und liebevoll gestaltet sein. Alles soll schön leuchten und die Kinder sollen ein schönes Fest haben. Die eigentliche Weihnachtsbotschaft rückt dabei ganz schnell in den Hintergrund. Zu Weihnachten sind sie plötzlich wieder alle an Bord. Diejenigen die den Kirchenaustritt vor sich haben und auch diejenigen die es schon hinter sich gebracht haben. Weihnachten gehört doch schließlich dazu, wo kämen wir dahin, dass ist doch unsere Kultur. Wirklich ? Ist es wirklich noch unsere Kultur oder sind wir auf dem besten Wege uns abzuschaffen. Immer dann, wenn etwas fremdes auf uns zukommt, ist Kirche willkommen. Immer dann wenn wir trauen oder vor schweren persönlichen Krisen stehen, fällt uns der Glaube wieder ein. Ist das alles so vollkommen in Ordnung. Wenn wir möchten, dass sich etwas ändert, müssen wir anpacken und Veränderungen vorantreiben.

Unsere Kirchen werden sich verändern. Unsere Gottesdienstformen werden sich ändern, unsere Kinder und Jugendarbeit wird sich verändern und auch unsere Verwaltungsstruktur wird sich ändern, Wird es in einigen Jahren noch einen Pastor oder Pfarrer/in in Dirmingen geben ? Ein Blick auf die Mitgliederzahlen bereitet da so manche Sorgenfalte. Wie werden unsere Kinder aufwachsen ? Werden sie noch christlich erzogen oder ist das alles gar nicht mehr so wichtig und eigentlich total veraltet. Wir machen Fremden zum Vorwurf, mit ihrem Glauben der eigenen Integration im Wege zu stehen. Dabei lassen wir unsere eigene christliche Kultur unbeachtet. Natürlich hat die Kirche in den letzten hunderten von Jahren vieles falsch gemacht. Die Kirche ist und bleibt jedoch Teil unserer Identität. Wir haben nun die Chance Veränderungen anzustoßen oder der Institution Kirche den Rücken zu kehren. Bei allen Verständnis von Enttäuschung und Ärger geht mir zu oft die Frage verloren: Was kann ich tun, damit es besser wird ? Wir leben in Zeiten tiefgreifender Veränderungen. Täglich werden wir mit der Globalisierung, Digitalisierung, dem Klimaveränderung und natürlich auch mit den Migrationsgeschehnissen in unserem Land konfrontiert. Die Kirche spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle. Dabei gibt es immer weniger Gemeindeglieder, weniger Pfarrerinnen und Pfarrer, weniger Ehrenamtliche und weniger Menschen die einen ganz normalen Gottesdienst feiern möchten. Das bedeutet, auch das Verhalten unserer Kirchenmitglieder hat sich stark verändert. Taufe, Konfirmation, Traugottesdienst oder Bestattungen sollen am besten flexibler und persönlicher gestaltet und durchgeführt werden. Der Anspruch ist größer geworden. Machen wir uns nichts vor: der gesellschaftliche Wandel macht auch vor der Kirche nicht Halt.

Die rechte, wahre Kirche ist gar ein kleines Häuflein, hat kein oder gar wenig Ansehen, liegt unter dem Kreuze. Aber die falsche Kirche ist prächtig, blühet und hat ein schön groß Ansehen wie Sodom.

Martin Luther (1483 – 1546), deutscher Theologe und Reformator

Mir persönlich hat die Kirche vieles gegeben. Meine eigene Identität, meine Kindheitserinnerungen, meine Jugendzeit und mein Erwachsenwerden waren von meiner Suche nach dem eigenen Glauben, in unserer Kirchengemeinde, geprägt. Dabei habe auch ich so meine Probleme mit der Institution Kirche. Auch ich finde längst nicht alles gut und lobenswert. Unsere Kirche gab mir jedoch immer das Gefühl Zuhause zu sein. Was wäre unser Dorf ohne unsere beiden Kirchtürme ? Das ganze kann man mit der angespannten Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn vergleichen. Die Kirche war mir oft zu streng, altbacken und besserwisserisch. Kirche sollte nicht verängstigen sondern vielmehr ermutigen. Der liebe Gott trägt keine Schuld an seinem Bodenpersonal. Unser Glaube sollte wieder in den Vordergrund gerückt werden. Wir sind gut beraten unsere Chancen neu ausloten und schnellstmöglich zu ergreifen. Ein Ende kann ein Anfang sein ! Geben wir uns gegenseitig eine Chance zum Neuanfang. Es ist an der Zeit zu vergeben und neu zu beginnen. Es ist Zeit, dass Vater und Sohn wieder einen Schritt aufeinander zugehen. Kirche kann soviel mehr!

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